Blutrot wie die Wahrheit
zurück in den Karton und begann, auch die anderen Sachen zusammenzusuchen. âJetzt wollen wir das aber mal wieder so wegräumen, wie wir es vorgefunden haben, damit Skinner nicht merkt, dass wir darin herumgestöbert haben.â
âAber Sie stimmen mir wenigstens zu, oder?â, beharrte sie. âDas Ergebnis der Untersuchung ist völlig abwegig.â
âUnd selbst wenn es das ist, so heiÃt es noch lange nicht, dass Fiona Gannon unschuldig zum Sündenbock gemacht wurde. Das würden Sie zwar gern glauben, weil das Mädchen Irin war und weil Sie ihren Onkel mögen, aber ich sag Ihnen mal was: Meiner Erfahrung nach sind jene, die ein so gewaltsames Ende finden, meist selbst nicht ganz unschuldig daran.â
âAber dass sie Irin ist, dürfte es Skinner und Baldwin deutlich erleichtert haben, den Geschworenen ihre Version der Ereignisse zu verkaufenâ, meinte Nell, als sie die Kleider sorgsam wieder so in den Karton zurücklegte, wie sie sie vorgefunden hatte. âFiona Gannon passte gut ins Bild â schon wieder so eine unverschämte irische Diebin und eine Mörderin noch dazu! Wie gut, dass Virginia Kimball es dem Commonwealth of Massachusetts wenigstens erspart hat, sie für ihr verwerfliches Tun auch noch hängen zu müssen!â
âFalls Sie denken, ich würde den Fall deswegen noch mal untersuchenâ, sagte Cook, âda brauchen Sie sich gar keine Hoffnungen zu machen. Das ist Charlie Skinners Fall, und für ihn und alle anderen hier in der Abteilung gilt er als gelöst. Kurtz würde mich niemals mit irgendwelchen Nachermittlungen beauftragen, da er ganz genau weiÃ, dass Skinner dann an die Decke geht. Und wenn Sie wüssten, wie viele eigene Fälle ich derzeit zu bearbeiten habe, könnten Sie sich ausrechnen, dass ich zudem überhaupt keine Zeit habe, diese Sache hier zu klären.â
âAber wenn Sie die Zeit hättenâ, fragte sie ihn, als sie den Deckel wieder auf den Karton setzte, âwas würden Sie dann tun?â
Cook erhob sich mit knackenden Gelenken und half Nell auf. âZuerst würdâ ich dann morgen zu Mrs. Kimballs Beerdigung gehen. Manche Mörder wollen gern mit eigenen Augen sehen, wie ihrem Opfer das letzte Geleit gegeben wird. Ist allerdings nicht immer der Fall â eigentlich eher selten. Aber es wäre zumindest mal ein Anfang.â
âIn der Zeitung stand aber, dass nur ein privater Gottesdienst stattfindetâ, wandte Nell ein. âGewiss werden nur die Familie und Freunde willkommen sein.â
âAch, niemand wird Ihnen dumme Fragen stellen, wenn Sie einfach so tun, als würden Sie mit dazugehören. Was nicht heiÃt, dass ich Ihnen dazu rateâ, fügte er augenzwinkernd hinzu, âaber da Sie eine so aufmerksame und hilfsbereite Bürgerin sind â¦â
âOh nein, warten Sie malâ, sagte sie. âIch kann ja gar nicht! Morgen ist Donnerstag. Ich werde mich um Gracie kümmern müssen.â
âMeinten Sie nicht mal, es gäbe noch eine Kinderfrau, mit der Sie sich die Arbeit teilen können?â
âOh, Miss Parrish ist steinalt. Die Nachmittage verschläft sie meist.â
âDie Beerdigung findet aber am Vormittag statt.â
âWird Detective Skinner auch dort sein?â, wollte sie wissen.
âEr hatte nicht vor hinzugehen, aber dann hat Kurtz ihn dazu verdonnert â würde schon einen guten Eindruck machen, gerade wo Mrs. Kimball doch so berühmt war und so weiter und so fort.â
Nell seufzte belustigt. âIch werde mal sehen, was ich tun kann.â
âVerhören Sie die Trauergäste, schauen Sie, ob Ihnen irgendetwas merkwürdig vorkommt.â
âVerhören? Auf einer Beerdigung?â
âWenn Sie es richtig anstellen, wird niemand merken, dass er eigentlich verhört wird. Plaudern Sie ein wenig. Stellen Sie einfach eine bedeutsame Frage, und dann halten Sie den Mund. Sie ahnen ja gar nicht, was einem die Leute alles so erzählen, nur damit kein peinliches Schweigen entsteht.â
4. KAPITEL
Als sie am nächsten Morgen kurz vor zehn die Arlington Street Church betrat, war Nells erster Gedanke, dass sie sich wohl in der Zeit vertan haben musste, denn dies konnte doch unmöglich Virginia Kimballs Beerdigung sein, oder? Es waren viel zu wenige Gäste da. Gerade einmal zwei Dutzend Häupter waren in den zumeist leeren Bankreihen, die sich lang vor
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