Blutrot wie die Wahrheit
hinaufschwangen. Es war überhaupt eine sehr schöne Kirche, befand sie, mit zwei langen Reihen hoher weiÃer Säulen, die das Hauptschiff von den kleineren Seitenschiffen und den Emporen abteilten. Ein würdevoller Herr um die sechzig in geistlichem Gewand â somit vermutlich Reverend Gannett â saà auf einem einfachen Stuhl mit hoher Lehne am Altar und blätterte in seinen Aufzeichnungen. Da sie nie zuvor einen Fuà in eine protestantische Kirche gesetzt hatte, kam Nell sich hier furchtbar fehl am Platz vor und meinte gar, wenngleich das natürlich völlig unsinnig war, sie müsse in dieser Umgebung gewiss ganz besonders irisch-katholisch wirken.
Ein Mann schlenderte an ihr vorbei den Mittelgang hinab und blieb am Sarg stehen, eine Hand in der Hosentasche, in der anderen einen Bowler, den er eben erst abgesetzt hatte und nun mit enervierender Geste leicht, doch beständig, gegen sein rechtes Bein schlug. Kurz darauf drehte er sich wieder um und lieà seinen Blick durch die Kirche schweifen, wobei er sein Augenmerk auf die Trauergäste richtete und sie der Reihe nach taxierte. Er war von eher schmächtiger Gestalt, mit raspelkurzem grauen Haar â vorzeitig ergraut, wie Nell aus den glatten Zügen seines scharf geschnittenen, spitzen, ja, wirklich ein wenig frettchenhaften Gesichts schloss. Anders als die anderen der anwesenden Herren, trug er keinen schwarzen Frack, sondern einen aschgrauen Anzug, darunter eine karierte Weste und an den FüÃen einfache braune Budapester.
Nell hegte nicht den geringsten Zweifel, dass dies niemand anderes als Detective Charlie Skinner sein konnte. Sie lächelte, insgeheim belustigt. Einen Bullen erkenne ich noch immer aus zehn Meter Entfernung.
Das Lächeln verging ihr indes rasch wieder, als Skinner sie auf einmal mit seinen blassen Augen fixierte und seinen Blick für eine kurze, aber durchdringende Bestandsaufnahme auf ihr ruhen lieÃ. Auf diese Weise von einem Polizisten angestarrt zu werden, und sei es noch so beiläufig und aus noch so sicherer Entfernung, weckte den Impuls in ihr, sich abzuwenden und flugs zur Tür hinauszurennen.
Schier unbezwingbar wurde dieser alte Reflex, als der Detective nun zielstrebigen Schrittes auf sie zukam, immer näher, doch als er zwanzig Fuà von ihr entfernt war, schwenkte er jäh ein und schlüpfte in eine der hinteren Bankreihen. Nell atmete leise auf, straffte die Schultern und lief nun auch den Gang hinab in Richtung Altar. Kurz vor dem Sarg hielt sie kurz inne und ging etwas langsameren Schrittes als zuvor weiter. Der Sargdeckel bestand aus einer groÃen Glasplatte, die einem einen letzten Blick auf die Verstorbene gewährte. Nell fühlte sich ein wenig an den gläsernen Sarg erinnert, in den die Zwerge Schneewittchen gebettet hatten, nachdem es von dem vergifteten Apfel gegessen hatte. Der Sarg selbst war aus weià lackiertem Schmiedeeisen, das so gefertigt war, dass es wie aus Tüchern drapiert wirkte.
Von den zahllosen Toten, die Nell im Laufe ihres sechsundzwanzigjährigen Lebens schon hatte sehen müssen, bot Virginia Kimball gewiss den bemerkenswertesten Anblick. Ihr offenes Haar, das so tiefschwarz war, dass es entweder eine Perücke oder aber gefärbt sein musste, ergoss sich in sanft flieÃenden, dunklen Wellen über das weià schimmernde Satinkissen, auf das ihr Haupt gebettet lag. Auch nach ihrem Tod war sie noch herrlich anzusehen, mit dramatisch geschwungenen Augenbrauen, edlen Wangenknochen und pudrig blasser Haut. Nun fiel Nell auch auf, dass sie wie für einen ihrer Bühnenauftritte geschminkt war, einschlieÃlich des dicken schwarzen Lidstriches, auf den sie nie verzichtete. Auf den ersten Blick sah sie daher viel jünger aus als achtundvierzig â bis man ihren faltigen Hals und die schlaffe Kinnpartie bemerkte, die KrähenfüÃe um die Augen und die tiefen Falten zu beiden Seiten ihrer karminrot geschminkten Lippen.
Doch nicht nur ihre Schminke war theatralisch, sondern auch ihre Robe. Die tote Schauspielerin trug ein schmal geschnittenes Gewand aus silbrig-weià schimmerndem Satin mit weit flieÃenden Ãrmeln und einem reich verzierten goldenen Gürtel â ein mittelalterlich anmutendes Kostüm, das zu dem Märchenmotiv passte, welches bereits in dem gläsernen Sarg anklang. Aus Gänseblümchen geflochtene Blütenketten und Kränze aus Wiesenblumen lagen über sie gestreut, um
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