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Blutrot wie die Wahrheit

Blutrot wie die Wahrheit

Titel: Blutrot wie die Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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ihr erstreckten, auszumachen – kaum das, was man beim Begräbnis einer so berühmten Persönlichkeit erwartete.
    Und dann fiel ihr Blick auf den Sarkophag vor dem Altar. Aus dieser Entfernung, denn Nell stand noch immer im hinteren Teil der Kirche, um sich unbemerkt umschauen zu können, sah es zumindest aus wie ein Sarkophag – ein großer, kunstvoll dekorierter Sarg, wie sie dergleichen zuvor nur in Büchern über das alte Ägypten gesehen hatte. Und als wäre das nicht schon wunderlich genug, war er auch noch weiß gestrichen, eine Farbe, die eigentlich den Särgen von Kindern vorbehalten war.
    Eine Gruppe von fünf weiteren Gästen, einem Gentleman und vier Damen, huschte schweigend an ihr vorbei, den langen Mittelgang hinab in Richtung Altar. Allesamt trugen sie schwarze Trauerkleidung, wie auch Nell, deren schlichtes Kleid mit dem modischen, über eine Krinoline gebauschten Prinzessrock, den Kleidern dreier der Damen recht ähnlich war. Die vierte hingegen trug ein Gewand, das von hinten so aussah wie einer jener wallenden, nur mit einem Stoffgürtel lose zusammengehaltenen Morgenmäntel, die eine Dame allenfalls in ihren privaten Gemächern trug. In der Öffentlichkeit hatte Nell dergleichen noch nie gesehen.
    Das Grüppchen blieb vor dem so wunderlich anmutenden Sarg stehen, und einer nach dem anderen gingen sie geneigten Hauptes an der Verstorbenen vorbei. Als sie sich umdrehten und in der ersten Bank Platz nahmen, erkannte Nell sie wieder: Orville Pratt mit seiner korpulenten, kleinen Gemahlin, seinen beiden hübschen blonden Töchtern und einer älteren Dame, die Nell nicht recht einordnen konnte. Die in das seltsam wallende Gewand Gekleidete war Emily, kürzlich erst von einer ausgedehnten Europareise nach Hause zurückgekehrt. Es verstand sich von selbst, dass ein bekannter Anwalt wie Orville Pratt mitsamt seiner Familie im Schlepptau die Beerdigung seiner einstigen Mandantin besuchte – und sei es nur um des guten Anscheins willen. Wie sähe das denn auch aus, wenn er sich nicht blicken ließe? Zumal er sich bei der gestrigen Anhörung ja noch so überaus anerkennend über den untadeligen Charakter der Verstorbenen ausgelassen hatte, eine Lobpreisung, die es sogar bis in den heutigen Daily Advertiser geschafft hatte.
    Gleich auf der Titelseite standen die Ergebnisse der amtlichen Untersuchung in Worten zusammengefasst, die keinen Zweifel an der Schuld der „faulen, aber höchst findigen“ Fiona Gannon ließen, die „mit der ihr eigenen Arglist von Anfang an darauf aus gewesen war“, sich Virginia Kimballs berühmte Diamantgeschmeide anzueignen.
    Als Nell Brady heute früh im Kutschenhaus aufgesucht hatte, war der noch verzweifelter gewesen als am Tag zuvor. „Das hat man ihr nur angehängt“, beharrte er, „und jeder glaubt’s einfach, weil sie Irin war. Und was soll das denn heißen, ‚mit der ihr eigenen Arglist‘? Dass wir alle so sind – Sie, ich, alle aus der alten Heimat? Oh nein, ich werd’ keine Ruhe geben, bis meiner Fee nicht Gerechtigkeit widerfahren ist.“
    Er hatte Fionas Leichnam zu einem Bestatter in der Pearl Street bringen lassen, wo er sie gestern Abend aufgebahrt gesehen hatte. „Das Schlimmste, was ich je hab’ sehen müssen“, versicherte er Nell mit Tränen in den Augen. „Sie war so ein hübsches junges Ding gewesen, gerade mal einundzwanzig geworden, und sie nun so zu sehen, ihr Kopf ganz …“ Die Worte erstarben ihm in der Brust, seine Schultern bebten. „Bei Gott, ich wollte, dass es stattdessen mich erwischt hätte.“
    Um sich zu vergewissern, dass Fiona tatsächlich aus nächster Nähe erschossen worden war, wie sie vermutete, hatte Nell Brady dazu bewegt, die Kopfverletzung seiner Nichte etwas ausführlicher zu beschreiben. Die Wunde an der rechten Schläfe, wo die Kugel sie getroffen hatte, sei nur ganz klein gewesen, hatte er ihr berichtet, war aber von einem schwarz gesprenkelten, dunklen Fleck umgeben gewesen, der sich bis auf Fionas Wange erstreckte. Die Austrittswunde hingegen war ein tief klaffender Krater – ein furchtbarer Anblick. Die linke Gesichtshälfte sei ihr praktisch ganz weggeschossen worden.
    Feierlich getragene Musik erklang nun von der wohl prächtigsten Orgel, die Nell je gesehen hatte, mit Pfeifen, die sich hoch zur tonnengewölbten Decke des Kirchenschiffs

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