Blutrot wie die Wahrheit
wurde. Es war oft keineswegs zu seinem Besten, aber er konnte Menschen und Ereignisse nicht einfach hinter sich lassen und so weitermachen, als sei nie etwas gewesen. Es war eine Eigenschaft, die ihm schon viel Leid bereitet hatte, doch Nell hoffte noch immer, dass er irgendwann lernen würde, mit seiner Vergangenheit zu leben, ohne sich von ihr aufzehren zu lassen.
Sie musste sich fast zwingen, ihren Blick von Will abzuwenden und ihre Aufmerksamkeit wieder auf die anderen Trauergäste zu richten. Soeben hatte Dr. Gannett den tröstlich vertrauten 23. Psalm angestimmt. Orville Pratt riskierte einen kritischen Blick auf seine Taschenuhr, derweil seine Gemahlin immer hektischer mit ihrem Fächer auf die stickige Luft eindrosch. Cecilia prüfte den Sitz ihres Hutes, einer schicken kleinen Kreation aus schwarzen Seidenschleifen und StrauÃenfedern. Die ältere Dame starrte wie gebannt auf den so wunderlich anzusehenden Sarg. Die einzige Pratt, die dem Trauergottesdienst Beachtung zu schenken schien, war Emily, die einen schlichten Chapeau Chinois aus schwarzem Strohgeflecht trug.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs, ein paar Reihen vor Nell, saà ein Gentleman um die sechzig, schlank, mit glatt pomadisiertem grauem Haar und einem grau melierten Kinnbart. Er hatte den Kopf Dr. Gannett zugewandt und bot Nells Blicken so seine hohe Stirn und aristokratische Nase dar. Es war ein Profil, das nur darauf zu warten schien, mit einer guten, feinen Stahlfeder und raschen Tuschestrichen festgehalten zu werden. Ãber dem Schoà hatte er einen Spazierstock liegen, dessen Griff â die gebogene Sprosse eines Hirschgeweihs â auf der Armstütze der Bank ruhte.
Nell widerstand der Versuchung, abermals zur Empore hinaufzublicken und richtete ihr Augenmerk stattdessen auf den Rest des so spärlich gesäten Publikums. Drei der Gäste waren allem Anschein nach Zeitungsleute, da sie sich fortwährend Notizen machten oder bereits an ihren Artikeln schrieben. Dem ÃuÃeren nach zu urteilen â den schicken, teils auch recht gewagten Kleidern der Damen, die allesamt dem Anlass wenig angemessen geschminkt waren, und der dandyesken Garderobe der Herren â, vermutete Nell in den anderen Leuten vom Theater oder begeisterte Theatergänger.
Dr. Gannett war derweil vom 23. zum 84. Psalm übergegangen â einer von Nells liebsten â, den er sehr schön rezitierte, ohne auch nur einmal in seine Aufzeichnungen sehen zu müssen. âWie lieblich sind deine Wohnungen, oh Herr der Heerscharen â¦â
Der dritte Vers erfüllte Nell stets mit melancholischem Sehnen. âDer Sperling hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen â¦â
So dankbar Nell auch für das Leben war, das ihr während der letzten fünf Jahre zuteilgeworden war, so änderte dies doch nichts daran, dass sie nicht in ihrem eigenen Haus lebte, sondern in dem der Hewitts. Und ihr Kind, das einzige Kind, das sie jemals würde lieben und groÃziehen dürfen, war in einer Nacht während des Krieges, da sie beide einsam und verzweifelt gewesen waren und des Trostes bedurft hatten, von William Hewitt mit einem der Zimmermädchen seiner Eltern gezeugt worden.
Gracie hatte zu weinen begonnen, als Nell sie heute Morgen in Edna Parrishs Obhut zurückgelassen hatte. Sie hatte gebettelt, mit ihr kommen zu dürfen, und als Nell ihr zu erklären versuchte, dass eine Beerdigung nichts für kleine Kinder sei, hatte Gracie erst recht darauf beharrt, dass sie mitkommen wolle. Sie hatte ein für alle Mal klargestellt, dass sie die schusselige alte Miss Parrish überhaupt nicht leiden könne, und erst recht konnte sie es nicht leiden, dass Nell sie jetzt sogar mitten in der Woche allein lieÃ. Nell erging es ähnlich, und insgeheim bereute sie es schon längst, jetzt nicht bei Gracie zu sein und sich stattdessen Brady zuliebe auf dieses gewiss völlig hoffnungslose Unterfangen eingelassen zu haben.
Beobachtete Will sie noch immer? Der Gedanke machte sie ganz benommen, obwohl das auch an der Hitze liegen konnte. Auf einmal sah sie sich selbst mit den Augen eines anderen â mit Wills Augen â, der sie von oben herab beobachtete, wie sie hier so saà in ihrem schlichten schwarzen Trauerkleid und dem Kapotthut, die Wangen erhitzt und gerötet, obwohl sie sich stetig Luft zufächelte.
Es sah Will ähnlich, sich so jäh und heimlich, fast wie ein
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