Blutrot wie die Wahrheit
sie herum ein Meer aus Lotusblüten, sodass es fast aussah, als treibe sie still im Wasser dahin.
Nell sog hörbar den Atem ein, als sie es endlich begriff. Sie war gar nicht Schneewittchen. Sie war Ophelia.
Selbst der Tod konnte Virginia Kimball nicht davon abhalten, eine Rolle zu spielen, die einst wohl zu ihren liebsten gezählt hatte, jene der jungen Ophelia, deren Liebe zu Hamlet sie in Wahnsinn und Verzweiflung treibt. Nell konnte sich kaum vorstellen, dass ein Bestatter von selbst auf diese wahnwitzige Idee gekommen war, und ebenso unwahrscheinlich war es wohl, dass der Vorschlag von dem alten Banausen Orville Pratt gekommen war. Mrs. Kimball musste diese Inszenierung beizeiten selbst geplant haben.
âAllmächtiger!â, hauchte Nell und bekreuzigte sich rasch, entsetzt darüber, so blasphemisch gesprochen zu haben â und noch dazu in einer Kirche! Ihr glühten die Wangen, als sie merkte, dass Dr. Gannett sie von seinem Platz beim Altar beobachtete. Protestanten bekreuzigten sich nicht. Er schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln, bevor er sich wieder seinem Manuskript zuwandte.
Vor dem Sarg lag kein Kniekissen, weshalb Nell einfach nur ihre behandschuhten Hände faltete und ein leises Gebet für Virginia Kimballs Seele sprach. Da sie trotz ihres Unbehagens aber doch nicht ganz auf die Gepflogenheiten ihres eigenen Glaubens verzichten wollte, bekreuzigte sie sich abermals â was diesmal jedoch hinterrücks von einem kurzen glasklaren Kichern kommentiert wurde. Als Nell sich umdrehte, sah sie, dass Cecilia Pratt sie beobachtete und dabei ihrer Mutter etwas ins Ohr flüsterte.
Etwa in der zehnten Reihe setzte Nell sich auf einen Platz gleich links vom Mittelgang, von wo aus sie alle anderen Gäste gut beobachten konnte â auÃer Skinner, der sich ganz nach hinten gesetzt hatte. Sie holte einen kleinen, in Perlmutt gefassten Fächer aus ihrem am Gürtel hängenden Handbeutel, klappte ihn auf und fragte sich, warum es ausgerechnet heute, da sie sich von Kopf bis Fuà in schwarze Wolle hatte kleiden müssen, so verflixt heià sein musste. Der Chor erhob sich und sang âNäher, mein Gott, zu Dirâ, danach stand Reverend Gannett auf und trat gemessenen Schrittes an den Altar.
âEwiger Vaterâ, hob der Pfarrer an, âGott des Lichtes und der Liebe, geheiligt sei Dein Name, der Du uns diese herrliche Welt geschenkt hast. Wir preisen Dich für die Liebe unserer Familien, für den Frieden unserer Gemeinden, und unter Tränen preisen wir Dich auch für den Engel des Todes, den Du beizeiten jedem von uns schickst â¦â
So sehr Nell auch die traditionelle, auf Latein gehaltene Totenmesse vermisste, so fand sie es zur Abwechslung doch recht erfrischend â eine ketzerische Regung, gewiss â, endlich einmal zu verstehen, was gesagt wurde. Es war ein ziemlich langes Gebet, das mit einem recht kläglich klingenden âAmenâ der wenigen Trauergäste schloss. Eine männliche Stimme indes war laut und klar und ganz deutlich zu vernehmen, doch kam sie keineswegs aus den vorderen Reihen, wie vielleicht zu vermuten gewesen wäre, sondern von oben links. Als Nell den Kopf hob und hinauf blickte, entdeckte sie einen gut aussehenden, schwarzhaarigen Mann, der auf der Empore gleich über ihr in der vordersten Bank saÃ. Seine Arme ruhten auf der Balustrade, und sein Blick war nicht auf Reverend Gannett, sondern auf sie gerichtet. Nells Fächer verharrte reglos.
Will.
Ihr stockte förmlich der Atem. Wie lange war er diesmal fort gewesen? Wochen. Nein, über einen Monat gar. Im April hatte sie ihn das letzte Mal gesehen.
Mit einem kaum merklichen Lächeln neigte Will leicht den Kopf. Er schien erfreut, sie wiederzusehen, wenngleich auch etwas verwundert, sie hier anzutreffen. Sie erwiderte seinen Gruà mit einem dezenten Nicken und fragte sich, ob er wohl absichtlich direkt über ihr Platz genommen hatte.
Sie hätte sich eigentlich denken können, dass William Hewitt der Schauspielerin, in die er einst so vernarrt gewesen war, die letzte Ehre erweisen würde. Er hatte sie zwar seit bestimmt dreizehn Jahren nicht mehr gesehen, aber so war er nun mal. Er konnte seine Vergangenheit â wie er selbst einmal gewesen war, und die Leute, die er früher gekannt hatte â nicht einfach ablegen, sie feinsäuberlich in Schachteln einsortieren, die dann fortgeräumt und deren Inhalt vergessen
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