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Blutrot wie die Wahrheit

Blutrot wie die Wahrheit

Titel: Blutrot wie die Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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Geist, wieder in ihr Blickfeld zu schleichen, just dann, als sie sich zu fragen begonnen hatte, wann sie ihn wohl jemals wieder zu Gesicht bekäme. Letzten Herbst, als sie gemeinsam aufzuklären versuchten, was mit Bridie Sullivan geschehen war, hatten sie sich häufig gesehen, aber seither nur noch gelegentlich. Hin und wieder war er ohne jede Vorwarnung während ihrer nachmittäglichen Ausflüge mit Gracie im Common oder Public Garden aufgetaucht und hatte ihnen Gesellschaft geleistet, nur, um dann wieder für zwei Tage oder auch zwei Monate sonst wohin zu verschwinden.
    Nell fragte ihn nie, wo er gewesen war. Sie wollte nicht von all den Städten hören, die er besuchte, den Faro- und Pokerspielen, die er gewonnen und verloren hatte. Wenngleich er mittlerweile hier in Boston ein Zimmer im Revere House hatte, in dessen Stallungen er auch seine Pferde und den Phaeton unterstellte, verdiente er sich seinen Lebensunterhalt doch immer noch mittels der Karten und nicht der Medizin, und dazu gehörte eben auch, dass er stets dorthin reisen musste, wo mit den höchsten Einsätzen gespielt wurde.
    Und gewiss würde ein Mann von William Hewitts Aussehen und seiner charismatischen Ausstrahlung an all diesen Orten auch viele attraktive Frauen kennenlernen. Exotische Schönheiten, dunkel, geheimnisvoll und ein wenig gefährlich – so, wie Will es auch war. Von diesen Abenteuern wollte Nell schon gleich gar nichts hören. Schlimm genug, dass sie überhaupt daran dachte.
    Wann immer Will wieder in ihr Leben spaziert kam, geschah es mit einer sehr britischen Nonchalance, als habe man nur auf ihn gewartet. Und Gracie würde sich dann auch sogleich mit einem hellen Freudenschrei in die weit ausgestreckten Arme von „Onkel Will“ werfen, der tatsächlich ja ihr Vater war, was sie aber nicht wusste. Er würde Nell anlächeln, während er seine Tochter umarmte – die mehr oder minder ja auch ihr Kind geworden war –, und einen kurzen flüchtigen Augenblick lang würde es sein, als wären sie eine richtige Familie, eine kleine, glückliche Familie, wie Nell sie nie gehabt hatte und wohl auch nie haben würde.
    Und nach der Umarmung gäbe es das Geschenk, denn Will kam nie zurück, ohne nicht irgendeine Kleinigkeit für Gracie dabeizuhaben: ein Büchlein mit Ausschneidepuppen, ein Paar Haarkämme, ein Säckchen Murmeln, einen Holzkreisel … Manchmal fragte Nell sich, wo er all die Sachen wohl herhatte, so beispielsweise, als er Gracie nach seiner bislang längsten Abwesenheit ein kleines Teeservice aus Porzellan mitbrachte, das sehr hübsch mit Szenen aus „Rotkäppchen“ bemalt und mit französischen Texten versehen war. Hatte es ihn wieder nach Übersee gezogen? Nell wusste mittlerweile, an welch düsteren Orten er sich oftmals herumgetrieben hatte und welche Gefahren dort lauerten, in den engen dunklen Gassen und den Opiumhöhlen, in denen ein Menschenleben nicht sonderlich viel galt. Viel hatte Will ihr aus jener Zeit zwar nie erzählt, aber immer noch genug, um sich manchmal zu sorgen – wenngleich sie ja wusste, dass sie sich doch eigentlich nicht um ihn zu sorgen brauchte.
    Aber wie sollte sie das nicht? Ihre Beziehung zu William Hewitt war zwar keineswegs von jener unmoralischen Art, auf die Mary Agnes so gern anspielte, doch verband sie eine tiefe Freundschaft, die während der letzten anderthalb Jahre stetig gewachsen war. Zwischen ihnen bestand eine Geistesverwandtschaft, wie Nell sie nie für möglich gehalten hätte, als sie Will das erste Mal begegnet war – schmutzig und blutverschmiert und mit dem jähen Opiumentzug ringend. Wie könnte es ihr jemals gleich sein, was mit ihm geschah? Wie sollte sie sich nicht um ihn sorgen?
    Den Psalmen folgten einige Passagen aus dem Matthäus- und dem Johannesevangelium, der Chor sang ein weiteres Lied, und dann kehrte Dr. Gannett wieder an den Altar zurück. „Wir haben uns heute hier eingefunden, um Mrs. Virginia Evelyn Kimball die letzte Ehre zu erweisen. Ihre Zeit auf Erden ist vergangen, wie sie – beizeiten – für jeden von uns vergehen wird. Keine Rollen wird sie mehr spielen, seien sie nun von Menschenhand oder dem himmlischen Vater geschrieben. Keinen Verurteilungen wird sie sich mehr stellen müssen, keinen Versuchungen und keinen Zwistigkeiten mehr ausgesetzt sein. Das Spiel ihres Lebens hat sein Ende gefunden, der Vorhang

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