Blutrot wie die Wahrheit
Gesicht.
âLegt sie ins Grabâ, sagte er mit rauer, bebender Stimme, âund aus der schönen unbefleckten Hülle sollen Veilchen wachsen.â
Er nahm sich das Bukett vom Revers und legte es an die Stelle, die er eben berührt hatte. âSüÃes der SüÃen. Lebe wohl, Virginia.â
Als er wieder aufschaute, lieà er seinen Blick über die Trauergäste schweifen und verweilte auf Orville Pratt. Seine von ungeweinten Tränen schimmernden Augen gefroren in so blankem Hass, dass es Nell den Atem verschlug. Mit fragender Miene wandte Winifred Pratt sich ihrem Gatten zu, der Mr. Thurstons Blick indes nicht erwiderte, sondern starr geradeaus sah. Eine Spur leiser Verachtung huschte über Mr. Thurstons Züge, bevor er sich schlieÃlich abwandte und langsamen Schrittes an seinen Platz zurückkehrte.
Der kaum merkliche Zwischenfall hatte wohl keine zwei, allenfalls vielleicht drei Sekunden gedauert, doch es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt.
Ungefähr zehn Minuten später, während der Chor sich gerade durch ein besonders langes und schwermütiges Lied quälte, nahm Nell oben auf der Empore eine Bewegung wahr. Sie schaute hinauf und sah Will in den hinteren Teil der Kirche gehen, Richtung Ausgang.
Wegen der alten Schussverletzung im Bein lief er ein wenig steif und ungelenk, doch schon deutlich besser als noch letzten Winter, wo er, nachdem er aufgehört hatte, sich der Schmerzen wegen Morphium zu injizieren, wieder stark zu humpeln begonnen hatte. Vielleicht war sein Körper mittlerweile daran gewöhnt, ohne Opiate auszukommen, oder aber es lag einfach am warmen Wetter. Nell wollte nur hoffen, und sie hoffte es wahrlich inständig, dass Will nicht zu seinen einstigen Gewohnheiten zurückgekehrt war.
Nachdem er die Treppe hinunter verschwunden war, wartete sie noch einen Moment, bevor sie sich umdrehte und den langen Mittelgang hinab zur Kirchentür schaute. Und dort stand Will, eine groÃe, im Gegenlicht der nun blendend hellen Mittagssonne dunkel umrissene Gestalt. Er zündete sich eine Zigarette an und schnippte das Streichholz aus. Dann schien es, als mache er eine auffordernde Geste in ihre Richtung. Vielleicht spielte ihr aber auch nur das gleiÃende Licht einen Streich?
Detective Skinner drehte sich gleichfalls um, da er wissen wollte, was ihre Aufmerksamkeit so sehr fesselte. Mit dem rasch kombinierenden Blick des Polizisten schaute er von Will zurück zu ihr, seine Augen funkelten. Will war derweil hinaus ins helle Sonnenlicht verschwunden.
Nell drehte sich wieder um und schaute nach vorn zum Altar. Sie holte ihr Taschentuch aus ihrer Gürteltasche, um ihr erhitztes Gesicht abzutupfen, besann sich dann jedoch eines Besseren. Eilig steckte sie ihren kleinen Fächer zurück in die Tasche, die sie wohlweislich geöffnet lieÃ, erhob sich und begann den Gang Richtung Kirchtür zu laufen. Einmal blieb sie kurz stehen, stützte sich auf eine der Banklehnen und tupfte sich den Schweià von der Stirn. Sie merkte, wie Skinner sie beobachte.
In der einen Hand das Taschentuch, die andere in einer leidenden Geste auf den Bauch gepresst, ging sie mit langsamen und etwas unsicheren Schritten weiter.
âMiss?â, sprach Skinner sie an, als sie ihn fast erreicht hatte. âGeht es â¦?â
Sie schaute vage in seine Richtung und begann unmerklich zu schwanken. âIch ⦠ich â¦â
Schwach streckte sie die Hand nach der nächsten Lehne aus, griff ins Leere und sank zu Boden.
5. KAPITEL
Skinner sprang jäh hoch und fing Nell auf, noch bevor sie zu Boden stürzte. âKeine Sorge, Miss ⦠ich habe Sie.â
Sie klammerte sich an seiner Jacke fest, als er ihr wieder auf die Beine half. âEntschuldigen Sie vielmals, ich ⦠ich brauche einfach nur ein wenig frische Luft.â Seine Kleider rochen nach billigem Tabak, sein Atem nach Rum und Lakritz.
âHier entlangâ, sagte er und führte sie etwas unbeholfen bis zur Treppe vor dem Portal. âSetzen Sie sichâ, drängte er sie und half ihr vorsichtig auf die oberste Stufe, die vom Schatten des Kirchendachs vor der grellen Sonne geschützt lag. Für Nells Empfinden lieà er bei dem ganzen Prozedere seine Hände länger als unbedingt erforderlich auf ihr ruhen.
Kutschen, Kaleschen und auch einige Mietdroschken standen wartend am StraÃenrand. Zwischen dem Leichenwagen und einem eleganten Landauer,
Weitere Kostenlose Bücher