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Blutrot wie die Wahrheit

Blutrot wie die Wahrheit

Titel: Blutrot wie die Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.B. RYAN
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sich gesenkt …“
    Und nun, schloss Dr. Gannett seine Andacht, freue er sich sehr, „Mrs. Kimballs ältestem und wertestem Freund, Mr. Maximilian Thurston“ das Wort übergeben zu dürfen.
    Der Herr mit dem grau melierten Kinnbart erhob sich und trat auf seinen Stock gestützt an den Altar. Er lehnte den Stock an das Rednerpult und holte ein säuberlich zusammengefaltetes Blatt Papier aus seinem Rock, einem tadellos maßgeschneiderten schwarzen Frack, zweireihig und mit in Seide gefasstem Samtrevers, das ein kleines Veilchenbukett schmückte. Unter dem Rock schimmerte eine Weste aus schwarz-violettem Brokat hervor, deren Farben auf jene seines Einstecktuches und des paisleygemusterten Schals abgestimmt waren, den er sich prächtig gebunden um seinen spitzflügeligen Hemdkragen geschlungen hatte. Eigentlich eine dem Anlass wenig angemessene Aufmachung, befand Nell, die bei ihm aber wohl keineswegs als despektierliche Geste zu verstehen war. Mr. Thurston war eben Dramatiker und neigte anscheinend wie so viele Künstler dazu, sich über Konventionen hinwegzusetzen.
    Er nahm das goldene Monokel zur Hand, das er an einer Kette um den Hals trug, und klemmte es sich vor sein rechtes Auge. Dann strich er sein Manuskript glatt und räusperte sich. „‚Zweifle an der Sonne Klarheit‘“, las er mit dem betont britischen Akzent, der für Bostons kulturelle Elite so typisch war. „‚Zweifle an der Sterne Licht. Zweifle, ob lügen kann die Wahrheit … Nur an meiner Liebe nicht.‘“
    Er schaute auf und sagte: „So schrieb es Hamlet der wunderschönen Ophelia. Und so wie er seine geliebte Dame verehrte, so verehrte auch ich meine liebe …“ Thurstons Stimme brach. Er hielt inne, Tränen schimmerten in seinen Augen, und zittrig rang er nach Luft, bevor er weitersprach: „Meine liebe, liebste Virginia. Von jenem Augenblick an, da ich sie vor nunmehr bald einundzwanzig Jahren das erste Mal sah, bin ich von ihr fasziniert gewesen.“
    â€žEs war im Howard Athenaeum“, fuhr er fort zu erzählen, „kurz nachdem man es damals umgebaut hatte und alles dort noch schön und sehr elegant war. Wir waren dabei, die Rollen für mein Stück Fröhliche Verfehlungen zu besetzen – an das manche von Ihnen sich vielleicht noch erinnern werden. Eine junge, gänzlich unbekannte Schauspielerin, noch dazu neu in der Stadt, war gekommen, um für die Rolle der Jungen Naiven vorzusprechen. Zunächst wollte ich sie nicht einmal den Text lesen lassen, da man mir gesagt hatte, sie sei dunkelhaarig, und ich die Figur doch ganz bewusst als blond angelegt hatte. Aber sowie Virginia Kimball dann an jenem Nachmittag die Bühne betrat, wusste ich, dass ich meine Gwendolyn gefunden hatte …“
    In dieser Manier schwelgte Mr. Thurston noch eine Weile in Erinnerungen und lieferte praktisch eine nicht gar so kurze Zusammenfassung von Virginia Kimballs schauspielerischer Laufbahn – unter besonderer Hervorhebung der von ihm verfassten Bühnenstücke –, ergänzt um einige persönliche Beobachtungen und Anekdoten. Vor einigen Jahren, so sagte er, habe sich Mrs. Kimball von der Bühne zurückgezogen, da sie des Rampenlichts und des Wirbels um ihre Person überdrüssig geworden war und sich fortan ganz ihrem Garten und der Wohltätigkeit widmen wollte.
    â€žDass dieses gütige, friedvolle Leben nun auf so grausame Weise ein vorzeitiges Ende finden musste …“ Mr. Thurston schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde es nie verstehen. Mein einziger Trost besteht darin, dass die am meisten gefeierte und verehrte Schauspielerin unserer Stadt ihren letzten Auftritt nun als tragische Heldin haben darf. Ich glaube, dass ihr dies eine gewisse Genugtuung bereitet hätte. Und so will auch ich versuchen, es hinzunehmen. Wie schon der trauernde Laertes um seiner geliebten verstorbenen Schwester willen sprach: ‚Zuviel des Wassers hast du, arme Ophelia, und drum halt ich meine Tränen auf.‘“
    Langsam faltete Mr. Thurston das Manuskript zusammen und steckte es in seinen Frack zurück. Dann nahm er sein Monokel ab, griff nach seinem Spazierstock und schritt die Stufen vom Altar hinab. Doch statt sogleich wieder an seinen Platz zurückzukehren, trat er an den Sarg, berührte mit den Lippen seine Fingerspitzen und legte sie dann sachte auf das Glas über Virginia Kimballs

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