Blutrot wie die Wahrheit
herumzustochern, war er als Feldarzt im Bürgerkrieg doch an weitaus schlimmere Anblicke gewöhnt und mit noch schrecklicheren Dingen in Berührung gekommen. Aber hätte Skinner sich wohl dazu überwinden können? Das konnte sie sich kaum vorstellen.
âTja ⦠wie es scheint, hat der Detective den Tatort nicht gründlich genug untersuchtâ, stellte Will denn auch fest und hielt mit blutverschmierten Fingern etwas kleines, matt metallisch Schimmerndes hoch. âWäre er bereit gewesen, sich seine Hände ein bisschen schmutzig zu machen, würde er es gefunden haben. Das wusste er wohl auch. Er muss gewusst haben, dass das Geschoss wieder ausgetreten ist und hier irgendwo sein muss. Die Indizien sind ja offensichtlich.â
âAber er konnte sich einfach nicht dazu überwindenâ, schloss Nell. âDa er das bei der Anhörung aber kaum zugeben konnte, behauptete er einfach, die Kugel sei in Fionas Schädel verblieben. Und hat sogar den Coroner dazu bekommen, ihm seine Version zu bestätigen.â
Um dieses neue Stück Beweismaterial besser betrachten zu können, hockte Nell sich zu Will auf den Boden, sorgsam darauf bedacht, ihre Röcke von den grausigen Spuren der Tat fernzuhalten. Es war ein Geschoss, das schon. Aber anders als jenes, das im Fensterrahmen sichergestellt worden war, hatte es keinerlei Ãhnlichkeit mit einem zerknautschten kleinen Kügelchen. Dieses Geschoss, wenngleich nun etwas verbeult und zerschrammt, war zudem nicht rund, sondern von eindeutig konischer Form.
âWie gut kennst du dich mit Munition aus?â, fragte Will sie, während er das kleine Projektil begutachtete.
Nell zuckte mit den Schultern. âIch weiÃ, dass es zwei verschiedene Arten gibt â Rundkugeln und kegelförmige Geschosse wie dieses da. Und dass sie verschiedene MaÃe haben können; die GröÃe richtet sich nach dem Innendurchmesser des Pistolenlaufs.â
âUnd wird in Kaliber gemessen, womit einige Hundertstel eines Inch gemeint sind. Dieses Geschoss hat mindestens vierzig Kaliber, wahrscheinlich mehr. Es ist absolut unmöglich, dass es aus einer Remington-Taschenpistole, Kaliber 31 abgefeuert wurde.â Bedächtig fuhr er mit seinem blutverschmierten Daumen darüber, als wolle er es polieren. âIch werde das mal kurz abwaschen gehen. Bin gleich zurück.â
Während er fort war, suchte Nell in den vom Schreibtisch auf den Boden geworfenen Sachen nach etwas, worauf sie zeichnen könne. SchlieÃlich fand sie ein weiÃes Blatt feinstes Bütten, auf das oben mittig mit karminroter Tinte Mrs. Virginia Kimball eingeprägt war, sowie einen Federkiel und eine silberne Schreibgarnitur. Nachdem sie den Stuhl mit dem Rücken zum Fenster an den Tisch gerückt hatte, um von da aus einen guten Blick über das ganze Zimmer zu haben, begann sie, einen ungefähren Grundriss des Tatortes zu skizzieren, in dem sie auch die Lage der beiden Leichen einzeichnete.
Als Will zurückkam, waren seine Hände wieder sauber, und er wickelte das Projektil in sein Taschentuch. âWas machst du da?â Er trat zu ihr und schaute ihr über die Schulter, als Nell gerade grübelnd ihre Zeichnung betrachtete.
âIch versuche zu verstehen, was hier passiert ist.â
âDu meinst, einen Gegenentwurf zu der Version, wie es sich laut Detective Skinner und dem Coroner zugetragen haben soll?â
Nell gab einen tiefen Seufzer von sich. âDer offiziellen Version nach ist Mrs. Kimball vom Einkaufen nach Hause gekommen und traf Fiona Gannon dabei an, wie die ihren Schmuck durchwühlte. Fiona schnappte sich daraufhin die Pistole unter dem Kopfkissen, oder vielleicht hatte sie auch vorausgedacht und trug die Waffe bereits bei sich, schoss damit quer durchs Zimmer und traf Mrs. Kimball in die Brust.â
âDass aus groÃer Entfernung auf sie geschossen wurde, dürfte relativ sicher seinâ, fand Will. âHast du mir nicht gesagt, dass das Oberteil von Mrs. Kimballs Kleid ein kleines, scharf umrissenes Einschussloch und keinerlei Pulverspuren aufwies?â
âKönnten Pulverspuren aber nicht auch von dem Blut verdeckt worden sein, das aus der Wunde austrat?â
Nun war es an Will, schwer zu seufzen. âAuf jeden Fall ist Mrs. Kimball dort drüben zu Boden gestürzt.â Er deutete auf die blutbefleckte Türschwelle.
âFiona denkt, dass sie tot ist, aber tatsächlich
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