Blutrot
Klängen eines Streicherquartetts.
»Sie sind nicht von hier, nicht wahr, Miss Donnel?«
»Ich stamme ursprünglich aus New York.«
»Dachte ich mir.«
»Bin ich deshalb verdächtig? Ist das ein Problem?«
»Überhaupt nicht.«
»Werden Sie es dann tun?«
»Im Fernsehen auftreten? Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich das so gut hinkriege.«
»Sie machen das schon. Ich bin ja dabei und helfe Ihnen. Wir gehen alles in Ruhe durch, so lange, bis sie so weit sind. Ich lasse Sie nicht im Regen stehen. Versprochen.«
Ludlow dachte darüber nach. Er besaß nicht einmal einen funktionierenden Fernseher.
»Ich nehme an, Sie haben keinen Hund, Miss Donnel?«
»Ich habe dre i Katzen«, sagte sie.
»Drei ?«
»Ja. Drei.«
Er nickte. »In Ordnung. Ich mach’s.«
10
Zwei Tage später sah er sich in den 18-Uhr-Nachrichten in einem Gerät, das Carrie Donnell für ihn vom Sender ausgeliehen hatte.
Er sah einen steifen, mürrischen alten Mann in Jeans und einem zerknitterten Hemd. Seine Hand, der einzige ansehnliche Körperteil an ihm, deutete auf den Fluss und danach hinauf zum Pfad, während die Kamera ihn umkreiste. Er hörte sich über die Jungen reden und dann über den Hund, als er auf Carrie Donnels Bemerkung einging, dass der Hund ein Geburtstagsgeschenk von seiner Frau Mary gewesen sei. »Sie ist schon lange tot, nicht wahr?«, fragte ihn die Reporterin, und der alte Mann auf dem Bildschirm nickte. »Und jetzt ist auch Red tot«, sagte sie, und der alte Mann nickte erneut.
Er fand, dass er im Fernsehen ein bisschen verwirrt wirkte und dass man ihm seine Wut anmerkte. Es überraschte ihn einigermaßen. Besonders deutlich wurde es, als er über die Entscheidung des Staatsanwalts sprach, gegen den Jungen keine Anklage zu
erheben. Ludlow hatte geglaubt, seine Wut gut kaschiert zu haben, aber die Kamera log nicht. Man konnte deutlich sehen, was er empfand. Er vermutete, dass es wohl schon immer so gewesen war.
Am Ende des Berichts stand Carrie Donnel vor der Kamera und erzählte, dass Straftäter, die sich der Tierquälerei schuldig machten, im Landesdurchschnitt nur 32 Prozent der maximalen Geldstrafe zahlen müssten und nur 14 Prozent der höchstmöglichen Haftstrafe aufgebrummt bekämen. Die meisten Angeklagten würden nicht einmal zur Verhandlung erscheinen. Dann zitierte sie Gandhi und sagte, die Größe einer Nation und ihr moralischer Entwicklungsstand ließen sich daran messen, wie sie mit ihren Tieren umging.
In York County, fügte sie hinzu, ließe sich dieser womöglich auch daran messen, welches Maß an Gerechtigkeit das Land seinem Bürger Avery Allan Ludlow und dessen Hund Red zukommen lassen würde.
Sie hatten die Schlussworte erst aufgezeichnet, nachdem er gegangen war. Jetzt war Ludlow gerührt und freute sich über die sanfte Eindringlichkeit ihrer Moderation. Er nahm sich vor, ihr auf irgendeine Weise dafür zu danken, auch wenn er noch nicht wusste, wie.
Der Telefonhörer lag neben dem Apparat. Er hatte ihn abgehoben, damit niemand während der Sendung anrief. Aber jetzt kam ihm der Anblick des Telefons gleichzeitig wie ein Vorwurf und eine Aufforderung
vor. Er hatte sich noch immer nicht bei seiner Tochter gemeldet. Und jetzt wusste das halbe Land über Red Bescheid. Es war höchste Zeit, dass sie es auch erfuhr. Aber erst musste er etwas essen und ein, zwei Bier trinken.
Als er das Steak mit Spiegelei verzehrt, das zweite Bier geleert und das Geschirr abgespült hatte, suchte er in Marys altem Adressbuch Alices Nummer heraus. Die Ziffern waren in Marys hübscher Handschrift geschrieben. Er wählte und drückte dann wieder auf die Gabel, um sich zu überlegen, was er sagen würde. Dann wählte er aufs Neue. Es klingelte zweimal, dann hörte er ihre Stimme.
»Hi, Allie«, sagte er.
»Dad?«
»Störe ich euch beim Essen?«
»Nein. Dick und ich essen heute Abend auswärts. Ich mache mich gerade fertig. Im Behördenviertel gibt es ein neues Fischrestaurant. Wie geht es dir, Dad?«
»Gut.«
»Ich wollte dich schon lange anrufen.«
»Ich dich auch. Wie geht’s Dick?«
»Prima. Überarbeitet wie immer. Jeden 4. Juli ist bei ihm die Hölle los. Er muss sich um die Parade kümmern, um die Konzerte im ›Shell‹, um die Feuerwerke unten am Fluss und in der Stadt und so weiter.«
»Ich kann mir gut vorstellen, was da los ist.«
»Wie es eben so ist, wenn man im Büro des Bürgermeisters arbeitet. Stress ohne Ende.«
»Und was ist mit dir, Allie?«
»Ich habe meinen Job im
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