Blutrot
meisten Leute kannte er. Ladenbesitzer, Geschäftsführer, Arbeiter, Feuerwehrmänner. Sogar ein Angestellter aus Ludlows Bank war da. Aber ohne ihr gewohntes Umfeld wirkten die Leute hier an diesem Ort und bei dieser untypischen Beschäftigung wie Figuren in einem Traum. Einem Albtraum aus Hitze
und beißendem Rauch, aus Dunkelheit und flackernden Lichtern, die sich in der Wasserlache auf der Stra ße spiegelten. Einem Albtraum, in dem er seine Frau und seinen Sohn ein zweites Mal in den Flammen verbrennen sah.
Er spürte, wie ihn der altbekannte Schmerz von damals überkam. Dazustehen und dabei zuzusehen, wie das, wofür er und Mary gearbeitet hatten, abbrannte, schien seine Frau ein zweites Mal umzubringen. Diese Existenz, dieses einzige ihm bekannte Leben schien imstande zu sein, ihm einen Schlag nach dem anderen zu versetzen. Schlag um Schlag um Schlag. War der Verlust des Hundes etwas anderes gewesen als der abermalige Verlust seiner Frau und seines Sohnes? Was war der Verlust seines Ladens anderes als der erneute Verlust des Hundes?
Er hörte, wie Holzbalken zerbarsten, und er sah, wie Flammen und glimmende Trümmerteile zum Himmel emporschossen. Dann stürzte das Dach ein. Wasserfontänen schossen in das Loch im Gebälk, Rauchschwaden stiegen auf.
Er wandte sich von der Szene ab und legte die Hand auf die kühle Ladefläche des Pick-ups.
Luke Wallingford fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Ludlow bejahte.
»Du bist doch versichert, oder?«
»Mhm.«
»Gott sei Dank.«
»Hast du irgendwas gehört?«
»Worüber?«
»Wie der Brand entstanden ist.«
»Noch nicht. Aber sie werden es herausfinden.«
»Ich schätze, ich weiß es«, sagte Ludlow.
21
In der sternenlosen Nacht wälzte sie sich auf die Seite und wandte ihm den Rücken zu. Er legte den Arm über sie, suchte das sanfte Gewicht ihrer Brust und schmiegte die Wölbung seiner Hand darum. Ihr Haar roch nach dem Rauch des Brandes. Sie zog eine Hand hervor und legte sie um seine.
»Ich sehe dich immer nur, wenn etwas passiert ist«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Sag mir die Wahrheit. Du meinst, du würdest für die Geschichte kämpfen. Aber sie werden auch nicht über das Feuer berichten, oder?«
Sie seufzte. »Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Weil niemand ums Leben gekommen ist.«
»Genau. Niemand kam ums Leben.«
Er spürte, wie ihm das Herz gegen den Brustkasten schlug wie ein junger Wolf, der sich gegen die Gitterstäbe seines Käfigs wirft.
»Was soll dieser Besuch dann? Eine Art Trostpflaster?«
»Hör auf, Av. Sei nicht so kleinmütig. Das passt nicht zu dir.«
»Tut mir leid.«
»Schon gut. Es tat dir schon leid, während du es gesagt hast. Verziehen.«
Sie drückte seine Hand. Durch das Fenster wehte der Luftzug über sie hinweg.
»Verdammt, wenn ich nur wüsste, was ich tun soll«, sagte er. »Es kommt mir vor, als wäre jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, die Welt ein bisschen weiter zusammengeschrumpft.«
Sie nickte.
»Willst du wissen, warum ich hier oben arbeite, Av?«, fragte sie. »Am Arsch der Welt? Mein Vater war achtzehn Jahre lang Polizist in New York City. Er fuhr mit seinem Streifenwagen durch die Upper West Side. Der sicherste Polizeibezirk Manhattans. Andere Cops zogen ihn immer damit auf, was für einen gemütlichen Job er habe. Aber nichts ist gemütlich, wenn es gegen dein Naturell ist.
Nach achtzehn Jahren und zwei Monaten hatte mein Vater einen Nervenzusammenbruch. Nichts Dramatisches. Ich meine, er hat nicht versucht seine Pistole zu verschlucken oder so etwas. Eines Abends fand meine Mutter ihn einfach weinend im Wohnzimmer. Sie setzte sich zu ihm und sah bis zum nächsten Morgen zu, wie er in die Dunkelheit starrte und in seine Hände hineinschluchzte. Dann wollte er nicht mehr zur Arbeit gehen. Er sagte, er könne nicht mehr.
Stattdessen nahm er einen Job als Nachtwächter bei der Jamaica Savings Bank an. Schlug sich durch, um mich durchs College zu bringen.
Vielleicht war es auch die Stadt, die ihn fertiggemacht hat. Oder beides, ich weiß nicht. Er war bis dahin kein einziges Mal aus New York rausgekommen. Aber während meines Abschlussjahres beschlossen meine Eltern, hierher nach Standish zu ziehen, weil eine Schwester meiner Mutter hier lebte. Danach hat mein Vater nie wieder eine Uniform angezogen. Er arbeitete als Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft, meine Mutter fand einen Job als Kellnerin. Und als ich im Sommer meinen Abschluss machte, hatte mein Vater einen Herzinfarkt und starb. Er war
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