Blutrot
48. Sie haben nur acht Monate lang hier oben gewohnt.
Ich glaube, mein Vater wurde Polizist, weil sein Vater auch einer war. Ich denke, er ist da irgendwie reingerutscht. Ausgesucht hat er sich den Beruf jedenfalls nicht. Daran ist er zerbrochen. Er war ein herzensguter, freundlicher Mensch, aber er hat nie gewusst, was er will. Ich glaube, das hat ihn schließlich umgebracht.
So bin ich nicht. Ich bin geschaffen für diesen Reporterjob, denn ich bin gut darin. Die meiste Zeit weiß ich ganz genau, was ich will und wo ich sein möchte.«
Sie drehte sich unter seinem Arm um und sah ihn reglos an, ihr Gesicht blass im Mondschein.
»Was ist mit dir , Av? Was willst du? Irgendetwas muss es doch geben.«
Zuerst dachte er, sie wolle nur hören, sie sei es, die er sich wünsche. Aber als er sie ansah, merkte er, dass ihre Frage anders gemeint war. Ernster. Sie wusste genau, was mit ihm los war. Er hatte keine Antwort für sie, nichts, was er ihr hätte sagen können. Außer einer Sache:
»Die Wahrheit.«
22
Er träumte von Menschen und Wölfen.
Zuerst sah er sie von Weitem auf einer Waldlichtung im Mondschein, ohne genau zu ahnen, um was es sich handelte. Irgendwelche Gestalten schlichen dicht am Boden zwischen den Eichen umher.
Vorsichtig trat er näher und hörte Knurren und zuschnappende Fänge. Dann merkte er, dass es Menschen waren und irgendwie auch wieder nicht. Es waren Gestaltwandler im blutigen Wolfsgewand. Mal waren sie Wolf, dann wieder Mensch. Ihr Zustand ging fließend ineinander über.
Ein Geruch von Moschus, regennassem Fell, Blut und Urin lag in der Luft.
Sie bildeten einen vagen Kreis, standen in Paaren oder allein da. Auf vier Beinen und auf zweien. Er drückte sich an einen Baum und beobachtete, wie der Kreis größer und größer wurde, während aus dem Dunkel des Waldes immer neue Gestaltwandler hinzukamen. Schon bald waren es zwanzig, dreißig von ihnen. Oder mehr. Der Vollmond schien hell auf
sie herab. Jetzt kam einer der Wolfsmenschen ganz dicht an ihm vorbei. Er ging aufrecht und schien den Weg genau zu kennen, denn er achtete nicht auf die Bäume vor ihm, sondern starrte stattdessen den Mond an. In seinen Augen schien der Wahnsinn zu flackern. Dann wurde der Blick plötzlich ruhig.
Ludlow konnte sich nicht erklären, wie eines so schnell auf das andere folgen konnte.
Neugierig folgte er den Kreaturen. Er hatte keine Angst, hielt sich aber trotzdem dicht bei den Bäumen. Plötzlich hatten sie ihn umringt. Ein Dutzend von ihnen, aufrecht stehend. Es waren jetzt Wölfe auf zwei Beinen, bar jeder Menschlichkeit, graubäuchig, muskelbepackt, mit Klauen so scharf wie Adlerkrallen, aufgerissenen Mäulern, spitzen Ohren und hellen heraushängenden Zungen. Sie alle starrten zum Mond hinauf.
Wie auf ein Kommando richteten plötzlich alle ihren Blick auf ihn.
Danach wandten sie sich ab.
Er betrachtete seine Hände und erkannte, dass nun auch er einer von ihnen war.
Er erhob ebenfalls den Blick in Richtung des Mondes, so wie sie es getan hatten. Von der leicht gewölbten Oberfläche starrten ihm seine eigenen Augen entgegen.
Er wachte auf und lag noch eine ganze Weile reglos in der Dunkelheit, während er über den Traum nachdachte.
23
Am nächsten Morgen fuhr er in die Stadt, um Tom Bridgewater aufzusuchen. Es war noch früh. Bis auf Tom, der an der Kaffeemaschine stand, war noch niemand da. Er bot Ludlow einen Kaffee an, aber der lehnte ab. Sie setzten sich an den Schreibtisch, Tom hielt ihm einen Donut hin. Ludlow lehnte erneut ab. Der Sheriff schien auch keinen Appetit zu haben.
»Ich weiß nicht recht«, sagte Tom. Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht waren sie es gar nicht. Schwer zu sagen.«
»Nein? Wer dann?«
»Wenn ich das nur wüsste. Hör zu, Av, die Jungen waren nicht einmal in der Stadt, als es passiert ist. Wir haben das überprüft. Die McCormacks waren in ihrem Haus in Cape Elizabeth und haben für ihren Sohn eine Geburtstagsparty veranstaltet. Für den Jüngeren, Harold. Er ist achtzehn geworden. Es gibt zwei Dutzend Zeugen, alle sind verlässlich. Niemand hat die Party zwischendurch verlassen.«
»Was ist mit Pete?«
»Er war auch da und hat dort übernachtet.«
»Dann haben sie jemanden angeheuert.«
»Wer denn? Der Junge? Danny? Ach komm, Av.«
»Der Vater war’s.«
»Warum sollte er das tun? Warum sollte er so ein Risiko eingehen?«
»Ich habe seinen Sohn verprügelt.«
»Ich weiß, Av.«
Er musterte Ludlow missmutig. Den kümmerte das nicht.
»Lass
Weitere Kostenlose Bücher