Blutrote Schwestern
kann da mit Glück noch drin sein? Der Schlauch trifft schnell auf Flüssigkeit, was vielversprechend ist. Wieder blicke ich zur Tür, nehme das Schlauchende in den Mund und sauge.
Ich reiße mein Gesicht fast augenblicklich weg und schnappe nach Luft, die nicht aus reinen Treibstoffgasen besteht – meine Lungen brennen und schreien vor Schmerz, aber es scheint funktioniert zu haben. Der Schlauch windet sich in meinem Griff, und ich höre das leise Plätschern von Treibstoff, der auf den Boden fließt. Schnell richte ich den Schlauch auf den schmalen Spalt unter der Tür und sehe zu, wie die Flüssigkeit hindurchzulaufen beginnt. Dann fixiere ich den Schlauch auf einer der Reinigerflaschen und trete über die Treibstofflache, die sich langsam ausbreitet. Ich reiße einen Stoffstreifen vom Saum meines T-Shirts ab und höre, wie die Wölfe draußen um den Treibstoff herumschnüffeln. Ein Fenris kratzt und heult an der Tür, seine Stimme ist halb Mensch, halb Tier.
»Hans und Maria wurden in der Höhle geboren und lebten dort ihr ganzes Leben lang. Sie blieben immer weit hinten in der Höhle in fast vollständiger Dunkelheit, denn wann immer sie versuchten, die Höhle zu verlassen, sahen sie große dunkle Monster an der Wand. Hans und Maria wussten es nicht, aber die Monster waren nur Schatten.«
Ich wickele mir den Stoffstreifen um die Stirn und ziehe eine Seite nach unten, so dass sie mein rechtes Auge bedeckt. Das ist nicht so effektiv wie die Augenklappe meiner Schwester, aber es wird reichen. Ich ziehe den Stoff fest, so dass er mir komplett die Sicht nimmt. Die Wölfe sammeln sich an der Tür, ein Chor von Schnüffelgeräuschen und Knurren mit vereinzeltem, herausstechendem Heulen dazwischen. Einige verwandeln sich knackend in Menschen zurück und rufen nach dem Alpha.
»Eines Tages kam ihre Großmutter in die Höhle. Sie nahm Hans und Maria bei den Händen und führte sie zu den Monstern und erklärte ihnen dann, dass die Monster nur Schatten waren.«
Oma Marchs Erzählstimme erklingt scharf und klar in meinem Kopf; die Erinnerung an den Geruch von Weichspüler in unseren Fleecedecken ist stärker als der scharfe Gestank des Treibstoffs, der immer noch aus dem Generator läuft.
»Schatz, ich kann nicht versprechen, dass ich mein Rudel zurückhalten kann, wenn ich gezwungen bin, diese Tür zu öffnen«, spottet der Alpha durch die Ritze der Tür. Es spielt keine Rolle; ich werde meinen Plan weiter verfolgen, ob er die Tür nun öffnet oder nicht. Sicherlich, ich werde sterben, wenn er sie nicht öffnet, aber ganz ehrlich … ich werde sowieso sterben. Ich schleiche zu den Regalen und greife nach dem Feuerzeug.
Und weiter geht’s.
Ich mache das Feuerzeug an, und nach der langen Zeit der Dunkelheit erfüllt die kleine Flamme den Raum mit einer Flut von Licht. Die Wölfe beginnen an der Tür zu kratzen, ihre Klauen schneiden in das Metall. Aus dem Schlauch kommt schließlich nur noch ein beständiges Tröpfeln von Treibstoff, als ich mit meinem unbedeckten Auge in die Flamme starre. Der Alpha wiederholt seine Drohung, und meine Augen beginnen zu tränen. Das Geheul der Wölfe in Menschengestalt schwillt an zu manischem Gelächter, dazwischen das Knacken der Wirbelsäulen derjenigen, die zwischen beiden Formen hin und her wechseln. Sie wollen rein; sie werden von der Gier der anderen nach mir angetrieben und wollen zugleich wissen, weshalb ich den Tunnel mit Treibstoff flute. Der Alpha gibt den anderen Wölfen einen Befehl – ein tiefes, gutturales Knurren. Ich starre in die Flamme und sehe Bilder darin: Ich und Scarlett als kleine Mädchen mit von Popsicle verfärbten Zungen. Scarlett im Krankenhaus, nach der Attacke. Der erste Tag, an dem ich die Sandsäcke für sie hielt, als sie mit ihrem Training für die Jagd begann. Der Tag, an dem ich das erste Mal mit ihr und Silas jagte. Der Moment, in dem ich wusste, dass ich Silas liebe. Der Tag, an dem er und ich uns im Gewitter küssten …
Die Zeit vergeht wie in Zeitlupe. Langsam, knirschend dreht sich der Schlüssel im Schloss, als der Alpha die Tür aufschließt. Als sie aufschwingt, starre ich in Hunderte von hungrigen Augen. Speichel tropft von den Zungen der Fenris auf den Betonboden.
»Dann«, sagte Oma March, »nahm ihre Großmutter sie mit hinaus ins helle, blendende Sonnenlicht.«
Die Wölfe springen. Ich falle zu Boden und halte das Feuerzeug an die Treibstofflache. Sie entflammt explosionsartig, frisst sich aus der Tür hinaus. Hoch
Weitere Kostenlose Bücher