Blutrote Schwestern
die Metalltür riechen können. Gäbe ein Fenris der Versuchung nach, wäre der Schritt für die anderen nicht mehr groß. Diese Tür, verschlossen oder nicht, kann die Masse an Wölfen, die ich draußen gesehen habe, nicht aufhalten.
Die Knie an die Brust gezogen, den Kopf in die Arme gelegt, sitze ich da und denke an Silas. Was macht er gerade? Wenn sie hinter Scarlett her sind, was denkt er, wohin ich verschwunden bin? Vielleicht vermutet er, dass ich auf der Suche nach ihr bin? Oder dass ich ihn einfach verlassen habe … Ich hoffe es nicht. Das könnte ich nie. Langsam atme ich ein und stelle mir vor, ich wäre jetzt bei ihm. Dass er mich im Arm hält, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüre und die spärlichen Stoppeln seines Bartes mich an der Wange kitzeln. Aber es ist schwer, sich irgendetwas in dieser Höhle vorzustellen, und meine Augen beginnen zu brennen. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, ihm zu sagen, dass ich ihn liebe …
Nein.
Denk nach, Rosie, denk nach.
Scarlett würde nicht weinen, sie würde nach einen Ausweg suchen.
Hör auf, an Silas zu denken, an Origami und Frühstück im Schnellrestaurant. Denk an
Flucht.
Ich schließe die Augen wieder, aber anstatt auf einen Traum, der mich hier wegholt, konzentriere ich mich auf eine Person: meine Schwester, die andere Hälfte meines Herzens. Der einzige Mensch, den ich kenne, der unzweifelhaft einen Weg durch eine verschlossene Tür und ein Rudel hungriger Fenris finden würde.
Denk wie Scarlett.
Ich versetze mich in sie hinein, bis ich fast die Narben auf meiner Haut spüren kann, fühle den Energieschub, der sie durchströmt, während sie jagt. Was sie empfand, als sie der Fenris angriff. Was sie empfand, als Mama zum letzen Mal gegangen ist. Was sie empfindet, wenn sie jagt. Ich bin Scarlett. Ich werde eine Lösung finden.
Ich konzentriere mich so sehr auf Scarletts Vorlieben, dass ich mich geradezu nach Gung-Bao-Hühnchen sehne – obwohl ich dieses Gericht schon seit Jahren nicht mehr gegessen habe. Aber vielleicht ist das auch nur meinem eigenen wachsenden Hunger geschuldet. Dann denke ich an die Farm in der Dämmerung und daran, wie sie sich für Scarlett anfühlt: still, gelassen, in blaues Licht getaucht. Wir haben über so vieles gesprochen, meine Schwester und ich. Und so viel anderes ohne Worte verstanden. Philosophie … sich darauf zu konzentrieren ist schon schwieriger. Ich mochte sie nie so wie Scarlett. Da gibt es besonders diese eine Geschichte, die sie mir immer wieder erzählte, wann immer ich das Jagen in Frage stellte. Jene, die Oma March uns erzählt hat, von den Kindern in der Höhle, die ins Sonnenlicht hinaustreten. Wie sie zuerst von der Sonne geblendet waren, aber lernen mussten, es zu akzeptieren, sobald sie einmal wussten, dass dies die Wahrheit war. Genau wie Scarlett und ich die Existenz der Fenris akzeptieren mussten, sobald wir wussten, dass es sie wirklich gab und sie nicht nur Schatten an der Höhlenwand waren.
Scarlett mochte diese Geschichte sehr und sagte, dass der Rest der Welt in einer Höhle lebe und denke, dass die Schatten Realität seien. Nur diejenigen, die über die Fenris Bescheid wissen, können wirklich das Sonnenlicht sehen. Und dann sind da noch Menschen wie Mr. Culler, die das Sonnenlicht zwar sehen, aber bevorzugen, weiterhin an die Schatten zu glauben. Die lieber glauben, ihr Sohn sei psychisch gestört, statt ein Monster. Um ehrlich zu sein: Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wie es ist, nicht über die Fenris Bescheid zu wissen. Scarlett erinnert sich noch an die Zeit vor der Attacke, für mich dagegen ist das alles ein großes Durcheinander. Erinnerungen, die mehr aus nostalgischen Geschichten bestehen als aus meiner tatsächlichen Erinnerung.
Vielleicht bin ich jedoch auch das Gegenteil von ihr. Vielleicht sind die Wölfe meine Schatten. Ich will glauben, dass sie ein Teil von mir sind, dass sie der Kern meines Wesens sind, genau wie für Scarlett. Aber jetzt, da
ich
das Sonnenlicht gesehen habe,
mein
Sonnenlicht, da ich gesehen habe, was es bedeutet, ein normales Mädchen zu sein, da ich gefühlt habe, wie es ist, geküsst und geliebt zu werden – wie kann ich da in die Schatten zurückkehren?
Ich öffne die Augen und atme tief ein. Natürlich. Der Plan formt sich in meinem Kopf wie die langsam ansteigende Flut. Ich bin zuversichtlich, ich bin fähig, und ich werde gewiss nicht warten, bis ein Waldarbeiter oder ein Jäger vorbeikommt, um mich zu retten.
Ich
werde
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