Blutrotes Wasser
steckte. Die Panik war wieder da und überflutete alles. Wild zerrte sie am Reißverschluss ihres Taucheranzuges, pellte sich den Gummistoff erst von den Schultern, dann von den Armen. Wenn sie noch dünner werden musste, nun gut, dann würde sie eben diese Haut loswerden.
Lena flutschte ohne einen Laut aus dem Anzug, aus dem Stein. Sie war frei. FREI. Frei und nackt. Zum ersten Mal spürte sie das warme, mineralreiche Wasser auf ihrer Haut. Nach oben, nach oben. Wie lange konnte sie die Luft anhalten? Fast zwei Minuten würde sie schaffen. Aber würde das reichen? Sie schoss nach oben, schwamm, so schnell sie konnte.
Unten steckte ihre zweite Haut in dem Loch aus Stein und schwankte in der Strömung. Die Gummiarme des Anzugs bewegten sich hin und her – es sah aus, als würden sie Lena hinterherwinken.
Bitte, dachte sie. Bitte, lass die Flussbarsche nicht weit geschwommen sein. Lass sie nicht neugierig gewesen sein, sondern brav. Nicht weit weg von zu Hause.
Zwei Götter herrschen in der Unterwasserwelt: die Stille und die Dunkelheit. Während Lena ihre letzten Luftreserven verbrauchte und nach oben schoss, während Sterne vor ihren Augen aufflammten und Blitze im Kopf explodierten, als ihr Körper sich über den Sauerstoffmangel beschwerte, da lächelten die Götter. Und Lena erkannte über sich: Licht. Gedämpft und schwach, aber es war Licht. Licht und Luft. Ich schaffe es nicht mehr, dachte sie, dann durchbrach sie die Oberfläche, tauchte aus dem Wasser auf und ein in die Luft.
Atmete tief.
17.15 Uhr, Tunnelanlage
»Das war echt cool, Lázlo.«
»Findest du?«
Frosch grinste ihn an und klopfte ihm auf die Schultern. »Finde ich. Du gehörst jetzt zu uns. Du bist kein Feigling mehr. Deine Seele ist geläutert.«
»Ist sie das?« Lázlo stierte vor sich hin. Er kam sich immer noch vor wie im Traum. Stunden war es her, dass er flennend von Irinas Verrat erzählt hatte. Oder Tage?
»Was glaubst du denn?«, fragte Frosch. »Los, sag mir, wie es dir geht!«
Lázlo verstand ihn kaum. Er war immer noch müde. Oder schon wieder? Dann lauschte er in sich hinein. Wollte den beiden Lázlos zuhören, die sich bekämpften, wollte das Rollen des Betonmischers in seinem Herz spüren. Aber da war nichts. Stille. Ruhe. Ein bisschen erschöpft war er, sonst nichts.
»Ich fühle mich … gut«, sagte Lázlo und blickte Frosch fragend an.
Der strahlte. »Siehst du? Ich sag’s ja, Holló ist ein echter Zauberer.«
»Übertreib’s nicht«, murrte André, der mit ihnen in der Küche hockte.
»Lass das bloß nicht Janosch hören«, gab Frosch zurück und machte ungebremst weiter: »Holló wirkt wie echte Magie. Und er wird uns in eine glorreiche Zukunft führen.«
»Wird er das?« Lázlo schwirrte der Kopf. Aber Frosch hatte schon recht. Sicher. Denn Holló hatte ihn getröstet, ihn in den Arm genommen und erlösende Sätze gesprochen: Es ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür. Das alles ist nicht schlimm. Der Rabe hatte Lázlo … verstanden.
»Auf, auf, Ungarn«, murmelte Lázlo und gähnte.
»Na komm«, sagte Frosch. »Ab in die Heia.«
17.21 Uhr, Gellértberg, ein Tümpel
Lena strampelte mit den Beinen im Wasser, sah nichts, hörte nichts, roch aber etwas. Sie roch die Luft. Schnupperte die heiße, nach Abgasen, Hundescheiße und Großstadt stinkende Luft Budapests, sog sie tief in sich ein. Sie war glücklich. Nie hatte etwas besser gerochen. Sie planschte im Wasser und blinzelte. Wo war sie eigentlich? Waren das, ja – Seerosen. Sie bedeckten die Wasseroberfläche fast komplett, strichen mit ihren grünen Blättern an Lenas Körper entlang. War sie gestorben und in einem Märchen aufgewacht? Nein, ein See. Eher ein Tümpel. Ein altes Badebecken vielleicht, denn überwucherte Mauern grenzten das Wasser ein. Wo zum Teufel war sie? Egal. Erschöpft schwamm sie an den Rand des Beckens. Spürte endlich Boden unter den Füßen: eine alte Treppe. Sie drehte sich, atmete tief. Über ihr schob sich der Burgberg empor. Den hatte sie sich noch gar nicht angeschaut, dabei war die alte Burg die berühmteste Sehenswürdigkeit von Budapest überhaupt. Das sollte man sich doch ansehen.
Was zum Teufel dachte sie da?
Lena merkte, dass ihre Zähne klapperten. Heißes Quellwasser hin oder her, sie war eindeutig zu lange im Wasser gewesen. Nie mehr Badewanne, dachte sie und kicherte. Jetzt hörte sie den Lärm von Autos. Das musste die Schnellstraße am Ufer der Donau sein. Wunderschöne blaue Donau, dachte sie.
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