Blutrotes Wasser
wurde. Ihm zu Ehren nenne ich mich Holló, der Rabe.
Natürlich bin ich nicht größenwahnsinnig, halte mich nicht für eine Reinkarnation dieses Herrschers. Aber ich versuche es ihm gleichzutun. Seit Jahrzehnten reift mein Plan, langsam und unscheinbar, so wie die Blüte mancher Kakteen mehrere Jahre benötigt, um für einen einzigen Tag in göttlicher Farbe zu explodieren. So wird mein Ungarn aufblühen. So wird mein Leben sich rechtfertigen.
Meine Organisation aufzubauen war nicht so schwer, wie ich angenommen hatte. Im Internet, dem großen Altar des modernen Wissens, findet sich alles. Und mehr, als ich brauchte. Informationen über Sekten und die Formen der Gehirnwäsche. Das Dreistufenprogramm nach Kurt Lewin, die Umprogrammierung eines Menschen durch Isolation, Manipulation und Autorität. Nichts Neues versuche ich hier, schaffe und forme ich. Und manche meiner Nächte sind schlaflos und voll Trauer, weil die Grausamkeit dieser Indoktrination mich quält. Aber das ist der Preis, den ich zahlen, die Qual, die ich aushalten muss. Denn … es funktioniert. Es ist leicht und einfach. Und der Zweck für die Neuprogrammierung der Persönlichkeit ist ein hehrer. Das Ziel ist eines Helden würdig. Alles begann mit Janosch. Janosch war der Schlüssel zur Schwarzen Armee, auch wenn er es weder weiß noch ahnt. Er wird immer der erste unter meinen Söhnen bleiben, treu und mir ergeben. Ich fand ihn unter einer Brücke. Schlafend in Pappkartons, seine Decke waren alte Zeitungen, sein Kopfkissen zerrissene Plastiktüten. Sein Herz war voll Hass und Einsamkeit. Ich nahm ihn auf, prägte und formte ihn. Da hatte ich den Plan schon lange vor Augen, deutlich gezeichnet, in allen Farben ausgeschmückt. Nur meine Helfer existierten noch nicht – und alleine konnte ich mein Ziel nicht erreichen, mein großartiges Gemälde nicht erschaffen. Janosch änderte alles. Denn das Prinzip der Gehirnwäsche
–
ich übertrug es auf Kinder. Ausgewählte Jungen, verloren, verletzt. Biegsam und Ton in meinen Händen. Im Gegensatz zu gierigen Sekten will ich nicht ihr Geld, o nein, ich will ihr Herz, ihre Seele. Ich beschenke sie. Ich nehme die Kinder an die Hand. Ich hebe sie auf und führe sie in eine Zukunft. Ich suche die Hoffnungslosen, die Ängstlichen und die Verlorenen. Ich zeige ihnen Wahrheit und Licht.
Jetzt ist das Ziel nicht mehr weit. Die Waffen sind geschärft, die Armee ist marschbereit. Zu lange, zu viel Schmerzen habe auch ich erduldet. Zu viel Trauer habe ich gesehen, zu viel menschliche Dummheit. Die Demokratie, sie war ein schönes Experiment nach der Giftküche des Kommunismus. Aber auch dieses Experiment ist gescheitert. Die Machtgier und Bösartigkeit der Menschen machte auch diesmal wieder alles zunichte.
Es gibt nur einen Weg. Den meinigen. Den Weg von Corvus, dem Raben, und seiner jungen Schwarzen Armee.
Auf in die Freiheit, ihr Magyaren! * Auf in die Freiheit, Ungarn!
7
Immer noch Mittwoch, 3. August
16.45 Uhr, Höhlensystem Molnár János
Zuckel, Zickel, Zackel, an der Leine hängt mein Dackel. Ich kreise um die Erde und notiere jede Beschwerde. O Gott, o Gott, ogottogott!
Immer noch steckte Lena im Fels wie ein Faden im Nadelöhr, wie ein Korken auf der Flasche. Die Angst war vorbeigekommen wie ein Nachbar auf einen kurzen Plausch, der sich aber häuslich einrichtet und einfach nicht mehr weggeht. Die Angst übernahm Zimmer um Zimmer in Lenas Geist. Anfangs war sie noch nicht wirklich beunruhigt gewesen. Sándor würde kommen oder ihr Vater. Als die Minuten verrannen und die Luft in der Flasche mit jedem Atemzug weniger wurde, hatte sich das schnell geändert. Ihr Vater würde erst in einer Viertelstunde unruhig werden, wenn sie planmäßig ihren Tauchgang beenden sollten. Und Sándor? Alles hing davon ab, ob er den Tunneleingang überhaupt finden würde, der hinter einer Wand aus Algen gut versteckt war. 3000 Mal, hatte er erzählt. 3000 Mal war er daran vorbeigeschwommen. Warum sollte er ihn ausgerechnet beim 3001. Mal bemerken?
Shit.
Die Angst rann durch Lena hindurch und verwandelte sich in Panik.
Wieder versuchte sie sich aus dem engen Schlund zu befreien, aber der Stein hielt sie fest.
Du wirst hier absaufen, dachte Lena. Du wirst hier krepieren wie ein ertränktes Kätzchen. Kotze, Kitze, Katze, was hast du für ’ne Fratze.
O Gott, dachte Lena wieder. Die Schüttelreime und Unsinnsgedichte ratterten ihr durch den Kopf, ohne dass sie sich aufhalten ließen. O Gott, wenn sie hier wieder
Weitere Kostenlose Bücher