Blutrotes Wasser
Problem – sie schaute hinaus und beleuchtete weiß aufstrahlende Felswände. Ihr Kopf, ja. Aber ihre Schultern passten nicht durch. Oder doch? Lena schlängelte sich weiter durch die Öffnung, quetschte und drückte, zog die eine Schulter hoch und ließ die andere herabsacken. Na also, ging doch. Jetzt noch der Rest von der Wasserpest, reimte Lena im Stillen. Aber sosehr sie auch zerrte und drückte, sie kam nicht weiter vorwärts. Irgendetwas blockierte sie an der Hüfte. Schade! So ein Krümelpech auf dem Ofenblech! Aber nun gut, sie musste ohnehin zurück. Papa würde ihr eine ordentliche Standpauke halten, weil sie diesen Gang allein erforscht hatte. Das heißt, wenn Sándor sie verpetzen würde.
Enttäuscht warf Lena einen letzten Blick auf die vielversprechende Grotte und schob sich einen Zentimeter zurück. Und noch einen. Dann hörte sie ein wassergedämpftes Ratschen und spürte einen scharfen Schmerz an ihrem linken Bein. Sie keuchte, stieß blubbernde Luftblasen aus und beobachtete den feinen roten Nebel, der kurz darauf an ihrer Taucherbrille vorbeischwebte. Ihr Blut. Mist, sie hätte wirklich besser aufpassen müssen. Aber sie hatte nicht gedacht, dass die Barytkristalle so scharf waren. Mist, Mist, Anarchist. Lena ignorierte den Schmerz und schlängelte sich rückwärts in den Tunnel hinein. Oder versuchte es zumindest. Sosehr sie sich auch anstrengte, sosehr sie quetschte und drückte – sie bewegte sich keinen Zentimeter mehr.
Lena hing fest.
15.40 Uhr, Polizeipräsidium, Teve utca
Wieder einmal studierte Hauptkommissar Frenyczek die Risszeichnung der Molnár János. Das Höhlensystem unter Budapest erstreckte sich über mehr als sechs Kilometer, verästelte sich wie die Blutbahnen in der menschlichen Lunge. Auch die Eingänge zu dem Wasserlabyrinth hatte er auf der Karte markiert. Vielleicht dachten ja alle viel zu kompliziert. Der Zusatz des Farbstoffs, der durch Gift ersetzt werden konnte, musste relativ leicht möglich sein. Aber die bekannten Zugänge ins Höhlensystem hatten seine Leute schon längst überprüft – und nichts Verdächtiges gefunden. Auch die Taucher, Touristen oder Einheimische, die im letzten Monat durch die Molnár János geschwommen waren, hatte man unter die Lupe genommen. Nichts.
Frenyczek gestattete sich ein Lächeln. So weit, so gut.
Die Tür zu seinem Büro wurde aufgerissen und sein Partner kam hereingestürzt. Wie immer in grauem Anzug und mit scheußlicher Krawatte. »Das ist gerade gekommen«, sagte er und wedelte mit einem Blatt Papier. »Es gab eine Bombenexplosion am Johannesberg * .«
Frenyczek stöhnte. »Was denn noch? Erst ein Giftanschlag im Gellért-Bad, jetzt eine Bombe im Wald. Was Besonderes?«
»Na ja.« Sein Kollege verzog das Gesicht. »Kleine Sprengkraft, niemand verletzt, niemand hat etwas gesehen. Muss irgendwann in der Nacht passiert sein. Übernimmst du das?«
»Gib her.« Frenyczek beugte sich vor, riss ihm das Blatt aus der Hand und schaute zu, wie er wieder aus dem Büro verschwand. Dann überflog er die Notiz. Eine Explosion in den Budaer Bergen, dem Naherholungsgebiet der Stadt. 270 Kilometer Spazierwege und Mountainbike-Routen, Aussichtspunkte, Sport- und Spielplätze. Schon merkwürdig, dass niemand etwas bemerkt haben sollte. Der gezündete Sprengkörper machte nicht viel her, war aber wirksam gewesen. Marke Eigenbau, wie die Spezialisten konstatierten. Die interessanteste Anmerkung fand der Kommissar am Schluss der Seite: »Wirkt wie ein Probedurchlauf.«
Erneut lächelte Frenyczek, wurde aber schnell wieder ernst. »Ein Test«, sagte er träumerisch, zerriss das Papier säuberlich in kleine Fetzen und ließ sie in den Papierkorb flattern.
Das konnte schon mal vorkommen.
6
Aus dem Tagebuch
Ich nenne mich Rabe. Natürlich wissen die meisten meiner Getreuen nicht, warum. Denn leider ist ihr Interesse an Geschichtsstunden so klein wie die Chance auf einen Lotteriegewinn. Obwohl ich mein Bestes gebe, um sie mit unserer Vergangenheit zu füttern. Aber ganz gleich. Ich nenne mich Rabe nach Matthias Corvinus, dem großen Herrscher des Königreichs Ungarn. Dem einzigen wahren König unseres Landes. Bis zu seinem Tod im Jahr 1490 führte er Ungarn zu Stärke, Kraft und Größe. Corvus ist das lateinische Wort für Rabe. Ein Rabe schmückte das Wappen von Matthias Corvinus; Burg Rabenfels gehörte zu seinem Lehen; Rabenvögel waren es, die ihm Nachrichten von seiner Mutter brachten, als König Matthias in Prag gefangen gehalten
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