Blutrotes Wasser
Und zitterte. Übelkeit stieg in ihrer Kehle hoch, Lena taumelte und schluckte krampfhaft. Was passierte mit ihr? Zu viel Stickstoff im Blut? Sie war aus 15 Metern Tiefe wie eine Kanonenkugel heraufgesaust. Von Dekompression konnte keine Rede sein. Aber sie hatte ja Nitrox eingeatmet, das genau diese Probleme verhindern sollte. Und sie hatte, als sie in das Rettung versprechende Licht heraufgeschwommen war, die Luft in ihren Lungen ausgeatmet. Oder nicht? Die Erinnerungen verschwammen. Sie wusste nur noch, dass da ein schmaler Spalt gewesen war, durch den sie sich hatte zwängen müssen, eine letzte Schranke zwischen ihr und der Luft. Schwankend stieg sie die Treppen hinauf. Wo ist eigentlich mein Bikini, fragte sie sich. Was ist mit meinem Taucheranzug? Warum tropft da überall Blut von der Haut?
»Lena!«
Wer rief? Sie wankte weiter nach oben, schaute mit starrem Blick nach rechts und nach links.
»Lena!«
Und dann hielt ihr Vater sie fest, hielt sie warm und sicher.
20.23 Uhr, Burgberg, Tunnelanlage
»Er ist noch nicht so weit.«
»Ach, und das entscheidest du, ja?« Janosch schaute André spöttisch an.
»Warum nicht?«, brummte André. »Lázlo packt das noch nicht.«
»Nein? Warum überlässt du Holló nicht das Denken.« Janosch lächelte. Wie immer verwandelten die vielen Fältchen um seine Lippen dieses Lächeln in ein Grinsen. »Lázlo wird uns nicht enttäuschen.«
»Er sollte geprüft werden.« André ließ nicht locker.
»Und wie?«, fragte Janosch. »Soll er wie die anderen in der Nacht ›Juden raus‹ auf die Wände schmieren? Unsinn.«
»Genau daran habe ich gedacht … Ich traue ihm nicht.« Offensichtlich ging André das Pulver aus. Janosch spürte es, Janosch genoss es. »Der Rabe vertraut ihm. Und der Rabe weiß alles.«
André musste antworten: »Der Rabe weiß alles.« Aber der Satz kam zu spät. Nur einen Hauch, aber das genügt manchmal. Vielleicht sollte er Frosch auf diesen André ansetzen. Der große Plan des Raben stand kurz vor der Umsetzung – Schwäche durfte jetzt niemand zeigen.
Niemand.
21.00 Uhr, Pension Liszt, V. Bezirk
Lena lag in ihrem quietschenden, viel zu weichen Bett und schaffte es kaum, ihre Augen offen zu halten. Ihr ganzer Körper tat weh und schrie nach Schlaf und Ruhe. Papas Standpauke war so donnernd und krachend ausgefallen, wie sie erwartet hatte, Sándor hatte sie erleichtert und enttäuscht zugleich angesehen und Professor Radelodz sich überhaupt nicht blicken lassen – seine Computer waren schließlich wichtiger als eine dumme, leichtsinnige 16-Jährige. Papa hatte sie in Decken gepackt, sofort in ihre Pension verfrachtet und irgendwo heiße Hühnersuppe aufgetrieben, die wie alles hier in Ungarn mit intensiv rotem, scharfem Paprika gewürzt war. Es war bloßer Zufall gewesen, dass er Lena entdeckt hatte. Sándor war ohne Lena zurückgekehrt, hatte vier andere Taucher losgeschickt, um sie zu suchen, und war mit Lenas Papa losgezogen, um die nächsten Einstiege zur Molnár János abzuklappern. Schließlich waren sie auch zu dem alten Becken gelangt, das einen Zugang zum Höhlensystem besaß.
Die Zimmertür ging auf und Emil Meinrad trat ein. Er sah so bleich und elend aus, wie Lena sich fühlte. Behutsam setzte er sich zu ihr auf die Bettkante.
»Mein Gott, Lena«, sagte er. »Ich dachte … ich dachte, du wärst tot.«
»Ich auch, Papa«, antwortete sie leise.
»Wie konntest du nur so …«
»Ja. Hör schon auf. Einen solchen Fehler werde ich nie wieder machen.«
»Versprochen?«
Lena lächelte matt. Nickte. »Es tut mir leid.«
»Schon gut. Vielleicht solltest du ein paar Tage Pause machen. Ich meine …«
»Du gibst mir ganz offiziell frei? Bezahlter Urlaub?«
»Bezahlter Urlaub!«
»Na dann: angenommen. Ich habe eh noch nichts von Budapest gesehen.«
»Gut. Ich liebe dich, Töchterchen.« Meinrad stand auf und strich ihr über die kurzen Haare. Er wollte noch etwas sagen, Lena spürte förmlich, wie ein Nonsens-Reim in der Luft hing. Aber ihr Vater schaute sie nur an. Vielleicht spürte er, dass die Zeit für Unsinnsgedichte abgelaufen war. Der Tod hatte Lena gepackt, sie ein bisschen geschüttelt wie ein Stofftier und wieder weggelegt. Nichts würde mehr sein wie früher.
Emil Meinrad räusperte sich. »Schlaf gut«, sagte er nur.
»Mach ich, Papa.«
Er zog die dicken altmodischen Vorhänge vor die Fenster, ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. Wollte noch einmal etwas sagen, schwieg aber wieder. Was sollte er dem
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