Blutrotes Wasser
und schnaubte missmutig. Jemand brach in die geheiligten Hallen des Parlaments von Ungarn ein – und seine eigenen Leute hielten das für einen Witz.
16.02 Uhr, Café Gerbeaud, Vörösmarty tér
Imre Rutschek zog ihr den Stuhl zurück und schob ihn wieder heran, als sie sich setzte. »Schön«, sagte er, »dass du für alten Mann Zeit.«
»Zeit«, seufzte Lena. »Die habe ich momentan mehr als genug.« Mürrisch dachte sie an ihre letzten Tauchversuche. Dreimal kämpfte sie, nur von Sándor Palotás begleitet, gegen ihre Angst unter Wasser an, dreimal war sie kläglich gescheitert. Sobald ihr Kopf unter die Oberfläche tauchte, drehte eben dieser Kopf auch durch: Die Panik packte sie und ließ sie erst wieder los, wenn sie aus dem Wasser geflüchtet war. Arbeiten konnte sie also nicht, obwohl ihr Vater Hilfe hätte brauchen können: Der Uniprofessor beharrte auf fehlerhaften Daten und schickte die Taucher immer wieder in die Höhlen hinein, um die Sensoren zu überprüfen oder auszutauschen. Aber Lena konnte nicht helfen. Natürlich drängte Emil Meinrad sie nicht. Deshalb hatte sie Zeit, o ja. Zeit für die drei Menschen, die sie in Budapest kennengelernt und die nichts mit Tauchen zu tun hatten: Lázlo natürlich, die Blumenfrau Éva und diesen in die Tage gekommenen meisterhaften Geigenspieler.
»Das ist selten bei Jugend«, kommentierte Imre. »Und, kennst Budapest besser?«
»O ja. Lázlo kennt sich wirklich aus.« Sie stockte. »Ich bin immer noch sauer, weil er Sie beleidigt hat.«
Rutschek schüttelte lächelnd den Kopf. »Musst du nicht. Ich denken, er wollte dich … beschützen.«
»Ich weiß.«
»Magst du ihn?«
Lena zögerte, nickte dann aber langsam.
Imre strahlte sie an und nahm noch ein Häppchen von seiner Esterházy-Torte. »Ich lieben«, sagte er, »Orte wie das Gerbeaud oder Thermalbäder. Atmen die alte Zeit. Erzählen Geschichten von Vergangenheit.«
»Ja.« Lena trank einen Schluck Sissi-Kaffee – mittlerweile mochte sie das Zeug.
»Was macht Lázlo?«, fragte Imre schließlich.
Lena überlegte. »Eigentlich«, sagte sie langsam, »habe ich keine Ahnung.«
16.32 Uhr, Váci utca
Éva schnupperte an ihren Astern. Herbstblumen waren das, mit feingesponnen Blüten und intensiven Farben. Van Gogh, dieser Maler, hatte nie Astern gemalt. Oder doch?
Éva humpelte ein paar Schritte weiter bis zur nächsten Straßenecke – ihr Bein schmerzte. Das war ein gutes Zeichen, denn ihr linkes Bein war eine zielsicherere Wettervorhersage als Rundfunk oder Fernsehen. Also würde es regnen, wahrscheinlich heute noch. Gut für ihren Garten. Gut für ihre Blumen. Sie stand still, fast unsichtbar, und ließ ihre Blicke über die Menschen schweifen. Vor ein paar Tagen hatte sie den Rucksack-Dieb erspäht, wie er sich mit einem Fahrrad durch die Fußgängerzone geklingelt hatte. Den würde sie im Auge behalten. Und auch dieses nette Mädchen, Lena aus Österreich, hatte sie wiedergesehen. Éva kicherte. Mit der konnte man gute Geschäfte machen: Ein paar Kunden mehr wie sie und ihre Tageseinnahmen wären gesichert. Der intensive Duft der lilafarbenen Blüten stieg Éva in die Nase – Astern rochen nach Leben: bitter, sehr streng, ein bisschen zwiebelig. Nicht viele Menschen mochten den Duft dieser Pflanzen. Ob Lena Astern mochte?
Wieder lachte Éva leise. Wenn man vom Teufel spricht, dachte sie.
»Hallo, Éva«, sagte Lena und schob sich durch die Passanten zu ihr.
»Magst du Astern, Kind?«
»Sehen schön aus, aber stinken.« Lena schaute überrascht. »Warum lachst du?«
Aber die Blumenfrau schüttelte nur mit dem Kopf.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Lena.
»Worüber?«
»Über das, was du letzte Woche gesagt hast. Ob ich das, was ich immer so gerne gemacht habe, auch wirklich mochte.«
»Und?«, krächzte Éva.
»Ich bin mir nicht mehr sicher.«
»Gut. Es ist immer gut, sich nicht ganz sicher zu sein.«
Lena kaute auf ihrer Unterlippe herum und starrte auf ihre Füße. Die wurden in den Flipflops immer ganz schön schnell dreckig – zumal in dieser Großstadt. Aber was für Schuhe sollte man sonst anziehen bei der Hitze? Budapest war wirklich eine seltsame Stadt, ihr Aufenthalt hier eine seltsame Zeit. So viel und intensiv hatte Lena eigentlich noch nie nachgedacht. Über sich selbst. Sie war immer mehr der Action-Typ gewesen, immer on the road und mitten im Leben. Nie hatte sie daran gezweifelt, später in Papas Fußstapfen zu treten, Geologie zu studieren und die
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