Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Strümpfe, Taschentuch und Halstuch. Jedes Stück trägt den Stempel des Gefängnisses. Zum Baden. „Haben Sie Läuse?“ „Nein.“ Der Hausvater steht dabei, wie Ludwig sich zögernd entkleidet, und macht sich dann gierig über die abgelegte Kleidung her. Kehrt die Taschen um, sucht nach Geheim- Taschen, fühlt den Stoff nach eingenähten Gegenständen ab, guckt in die Stiefel, pirscht nach verbotenem Besitz: Bargeld, Messer oder Stricke, die zum Selbstmord benutzt oder eine Flucht erleichtern könnten. Wirklich, er findet in einem Taschenwinkel ein vergessenes Bindfadenendchen, mit dem sich immerhin ein Hals zusammenschnüren ließe. Das Endchen wird konfisziert, registriert und wandert zu den anderen einbehaltenen Sachen. Vom Baderaum geht eszum Gefängnisvorsteher. Der Gefangenenakt Ludwig N. wird angelegt. Ein Oberwachtmeister führt den Zugang in eine Zelle, unterweist ihn in der Hausordnung, im Bettenbauen (sehr wichtig!) und im Säubern der Zelle.
Die schwere Tür schnappt ins Schloß, Ludwig ist sich selbst überlassen. Er richtet sein Bett her, betrachtet die drei zerlesenen Bücher im Wandregal und sieht durch das Gitterfenster einige Quadratmeter blauesten Sonnenhimmels. Bei diesen Quadratmetern wird es während der nächsten Monate bleiben. Und dann? Einige Quadratmeter hinzu: Erziehungsanstalt. Aber schon jetzt weiß Ludwig, daß er in der Anstalt die erste beste Gelegenheit zur Flucht benutzen wird. Wieder nach Berlin. Den Saukerl, der ihm die Geschichte mit dem Gepäckschein eingebrockt hat, muß er wiederfinden!
In den nächsten Tagen wird Ludwig zweimal vom Untersuchungsrichter vernommen. Dann ist der unkomplizierte Fall terminreif. Natürlich hat der Junge den Gepäckschein samt der Brieftasche gestohlen. Abführen, Wachtmeister. Auch Besuch kommt zu Ludwig in die Zelle. Der Arbeitsinspektor fragt, ob Ludwig arbeiten will. Glasperlen aufreihen, wird gut bezahlt. Für zehntausend Perlen in der Größe eines etwas zu groß geratenen Stecknadelkopfes zahlt der Staat immerhin einen Groschen … wenn der Gefangene nicht bereits nach den ersten fünftausend irrsinnig geworden ist. Weiter kommt der Anstaltslehrer und erkundigt sich nach Ludwigs Bildungsgang, was er gern lesen, ob er sich an einem Unterricht beteiligen wolle. Der evangelische Geistliche verspricht, den katholischen Kollegenzu schicken, und ein Abgesandter des Jugendamtes macht sich eifrig Notizen. Tags darauf wird Ludwig dem Anstaltsarzt vorgeführt. „Haben Sie Tripper, Syphilis?“ „Nein.“ „Gut, abführen. Der nächste. Haben Sie Tripper, Syphilis?“ …
Für die Mark, deren Erwerb ihn so teuer zu stehen kam, hat Ludwig sich Zigaretten kommen lassen. Fünfzig Stück zu zwei Pfennig. Der Geruch des schlechten Tabaks dringt durch feine Türritzen auf den Korridor in die Nase des schmachtenden Kalfaktors. Er sieht sich um: kein Wachtmeister in der Nähe. Leise klopft er an Ludwigs Zellentür, dann, den Mund an den Spalt gelegt, haucht er in Ludwigs Zelle: „Kamrad, hier ist dein Kalfaktor, hast noch wat zu pusten?“ Ludwig bejaht drinnen. „Kannste mir nachher bein Abendbrot nich een paar Zigaretten zustecken? Aba so, det der Wachtmeester nischt merkt.“ Ludwig verspricht ihm fünf Zigaretten, gleichzeitig kommt ihm ein Gedanke. Er fragt den Kalfaktor, ob er eine Möglichkeit habe, einen Zettel nach draußen zu schmuggeln. Der Kalfaktor glaubt es zu können, morgen und übermorgen würden mehrere gute Freunde von ihm entlassen, die könnten den Zettel mitnehmen. Aber Ludwig hat keinen Bleistift. Er sagt den Text durch den Türspalt, der Kalfaktor soll ihn aufschreiben. „Jonny, in der Kneipe von Schmidt, Linienstraße. Bin verhaftet wegen Gepäckscheindiebstahl, aber unschuldig. Schicke zu essen und zu rauchen, Ludwig.“ Der Kalfaktor verspricht alles, aber: zehn Zigaretten! Gut. Abends beim Austeilen des Essens gleiten zehn Zigaretten in des Kalfaktors griffbereite Hände.
Drei Tage später. Der Wachtmeister schließt auf:„Kommen Sie mit zum Hausvater, ein Paket ist für Sie abgegeben.“ Jonny hat den Kassiber gekriegt, blitzt es in Ludwig auf. Richtig. Vor den Augen Ludwigs öffnet der Hausvater das Paket. Obenauf liegt ein Zettel, Ludwig erkennt sofort Jonnys Schrift. „Mein lieber Ludwig, habe durch das Jugendamt von Deinem Unglück gehört und schicke Dir zu essen und zu rauchen. Es denkt immer an Dich Deine Tante Else. Auch Onkel Jonny läßt grüßen.“ Der Hausvater läßt den harmlosen Zettel unbeanstandet
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