Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
die Kostenfrage, indem er der Prostituierten einen Zehnmarkschein zuwirft: „Für alle!“ Jonny, illustrer Gast und Bulle einer befreundeten Clique, eröffnet den grauenhaften Reigen. Dann das Geburtstagskind und alle, alle … Die Prostituierte liegt auf einem Diwan aufeinandergeschichteter Kartoffelsäcke, raucht eine Zigarette nach der anderen und ist sonst nicht weiter interessiert. Nach einer Stunde hat sie ihre zehn Mark verdient. Sie muß über die Knäuel wie tot daliegender Jungen klettern, um den Ausgang zu erreichen. Still ist es in der Laube. Die Altarkerze beleuchtet ein trauriges Bild … — —
Was wird mit mir, fragt Ludwig sich in der Trostlosigkeit der Haft. Und klipp und klar die Antwort: einige Monate Gefängnis für eine Sache, die du nicht gemacht hast, dann Wiedereinlieferung in die Erziehungsanstalt. Also weitere drei Jahre Gefängnis. Was mögen die Blutsbrüder denken, wo er geblieben ist? Er hat keine Möglichkeit, ihnen Nachricht zukommen zu lassen. Nicht ein Lichtblick, wohin die marternden Grübeleien auch tasten. Er wirft sich aufs Bett und beißt krampfhaft in das grobe Leinen des Bezuges. Aber er vermag es nicht einzudämmen, das befreiende hemmungslose Weinen.
Für den durch den Spion an der Tür kontrollierenden Beamten ist dieses Bild altgewohnt. Essen, Trinken, Schlafen, Verrichten der Notdurft und Weinen, vom lautlosen In-sich-hinein-Weinen bis zum hysterischen Geheul. Eine dankbare Sache das, den Häftling sich selbst zermürben lassen, indem man ihm die letzte Fliege, die den Häftling eventuell zerstreuen könnte, aus der Zelle wegfängt. Diese Selbstzerfleischung während der Untersuchungshaft erspart dem Untersuchungsrichter manches ermüdende Verhör. Der mürbe gewordene Eingesperrte gesteht alles und noch einiges mehr, nur, um endlich der modernen Folter der Untersuchungshaft zu entfliehen und vor Gericht gestellt zu werden.
Am nächsten Morgen heißt es für Ludwig: „Machen Sie sich fertig … kommen ins Untersuchungsgefängnis Moabit.“ Mit einem Dutzend anderer Häftlinge wird er in den Hammelstall der Kanzlei bugsiert. Der Beamte ruft an Hand der Akten dieNamen auf. Hinter jedem Namen folgt der wenig tröstliche Zusatz: „Gefängnis Tegel“ oder „Plötzensee“ oder „Moabit“, wie bei dem Aufruf Ludwigs. „Alle raus!“ Ins Transportauto, das die Gefängnisrundreise antritt. Durch einen winzigen Lüftungsspalt sieht Ludwig einige Zentimeter Alexanderplatz, und bald ist die erste Station, Moabit, erreicht. Schupos, die das Auto begleiten, übergeben die hierher bestimmten Häftlinge und deren Akten der Gefangenenaufnahme. Noch einmal kann Ludwig durch das parterre gelegene Büro freie Menschen, jagende Autos und bimmelnde Straßenbahnen sehen. Dann wieder die stereotype Aufforderung: „Kommen Sie mit.“ Ein glasüberdachter und blumengeschmückter Gang verbindet das Bürogebäude mit dem Gefängnis. Der Beamte schließt eine Tür auf.
Urplötzlich haben Blumen und Freundlichkeit ein Ende. Gefängnis, Halbdunkel grau in grau. Turmhoch, sich im Dunkel verlierend, wächst ein System von Treppen in nackter Eisenkonstruktion. Etage baut sich auf Etage. Zellenhaus reiht sich sternförmig neben Zellenhaus, in der Mitte beherrscht von hoher Aufsichtskanzel, von der bei kleinstem Verdacht Alarm schrillt. Kalfaktoren in blauer Gefängnistracht bohnern blitzende Linoleumbahnen der Korridore noch blitzender. Langsam gleitet der eiserne Bohnerbesen hin und zurück, hin und zurück. Man hat Zeit hier. Jahre oder mindestens viele Monate. Wachtmeister beäugen durch die Spione das zur Strecke gebrachte Wild, aktenbeschwerte Rechtsanwälte eilen in die Sprechzimmer, um sich ihre KlientenRaubmörder oder Devisenschieber vorführen zu lassen. Kleine Trupps Untersuchungsgefangener werden in Reih und Glied ins Bad, zum Arzt oder zur Freistunde geführt. Ein Gefängnis voll hastenden Getriebes, aber die menschliche Stimme, soweit sie dem Gefangenen Nummer soundso gehört, ist nur ein scheues Flüstern. Ludwig wird zum Hausvater geführt. Geführt, geführt. Hier in diesem hundertmal gesicherten Gefängnis macht kein Gefangener außerhalb seiner Zelle auch nur einen Schritt ohne die in drei Schritt Abstand folgende Staatsgewalt.
„Legen Sie alles auf den Tisch, was Sie in den Taschen haben“, befiehlt der Hausvater. Auch Hemd und Strümpfe werden Ludwig abgenommen. Dann prasselt ein förmlicher Segen Anstaltseigentum auf Ludwig ein. Wolldecken, Bettwäsche, Hemd,
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