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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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war“, auf dem Schoß und tröstet bei jeder Gelegenheit mit Streicheln und Küssen. Bei der ersten Lage Schnaps sagen alle feierlich: „Auf dein Wohl, Ludwig.“ Dann muß er erzählen. Wie sie ihn geschnappt haben, das Verhör, die Tage auf dem Alex, dieVerhandlung vor dem Jugendgericht, wie er den Kassiber von Tante Else in der Zuckertüte bemerkt hat. Wie das Essen war, die Behandlung, und ganz, ganz ausführlich, wie er auf der Station Friedrichstadt flitzte. Naja, der Transporteur war ja scheinbar ein anständiger Kerl, aber Freiheit ist Freiheit. Restlos stolz ist die Clique auf ihren Ludwig, als er von der gefundenen B. Z. erzählt, die ihm zu dem Groschen zum Telephonieren verhalf. Verdammt, der Junge hat doch ein Köpfchen! „Prost! August Kaiweit!“ Und Jonny setzt hinzu: „Auf daß wir den Raben schnappen, der dich so reingelegt hat!“
    Der Klavierspieler annonciert eine Rumba und tastet etwas heraus, das ebensogut Tango oder Black Bottom sein kann. Die Mädchen suchen sich mit ihren Liebsten einen Quadratmeter zum Tanzen, auch Anneliese hat Ludwig gepackt, der jetzt Rumba tanzen muß. Gestern um diese Zeit lag er noch auf der Pritsche im Polizeigefängnis, im Bauch gluckste die abendliche Mehlsuppe und draußen auf dem Korridor krachten die Nagelschuhe der Wachtmeister. „Anneliese, gib mir ’n Kuß“, flüstert er hastig dem Mädchen zu.
    Die Zeche ist bezahlt. Die Blutsbrüder gehen. Mexico? „Nee, lieber nich“, antwortet Fred grinsend. Die Alexanderquelle in der Münzstraße ist ein unappetitlicher Laden, aber immer gerammelt voll. Die Gewalt der verabfolgten Blechmusik schmettert den Schaum von den Mollen, und der in Massen fabrizierte Tabaksqualm hält die Papiergirlanden in ständigem Aufruhr. Cliquenjungens aller Jahrgänge, Ringleute, Prostitution der letzten Kategorie, Penner, Bettler undBettlerinnen. Sie alle sorgen für die Wohlpoliertheit der Glatze des Wirtes, der den Pestgestank seines Lokales nicht mehr atmen kann und vor der Tür steht. Unheimlich voll ist es. Der letzte Gast mußte bereits am Windfang haltmachen und schreit von dort nach Bier und Schnaps. Die Clique quängelt und würgt sich durch die Fülle, nirgends etwas frei. Ganz hinten, im erhöhten Hinterraum, vor den Toiletten, gelingt es den Blutsbrüdern, sich noch an zwei schon überbesetzte Tische zu quetschen. Man rückt bereitwilligst noch enger zusammen.
    Ludwig, Anneliese, Jonny und Fred sitzen zwischen ausgemergelten Asylgestalten, die hier die Hühnerleiter ihres Lebens mit Koks und Korn mit ’n Punkt zu vergessen trachten. (Koks: Rum mit einem Stückchen Zucker. Korn mit ’n Punkt: Kümmel mit einem Tropfen Himbeer.) Jonny bestellt eine Tischlage Koks. Die Asylisten halten mit, selbstverständlich. Ein Alter mit langem, weißem Vollbart ist noch beim Abendbrot. Die linke Hand hält ein halbeingewickeltes Wurstende, von dem das Kartoffelschälmesser in der Rechten Stück um Stück abschneidet und es, begleitet von einem Brothappen, zum Munde führt. Das Greisengesicht mit dem wuchernden weißen Haar wirkt wie ein Überbleibsel aus jenen vormärzlichen Filmen, wo das brave Kind am Gartenzaun dem guten alten Mann einen Sechser in den Schlapphut wirft. „Na, Vater, willste noch nich bald nach Hause gehn?“ fragt Fred. „Nach Hause?“ Der Alte blickt kurz auf, um sich dann wieder seinem Wurstende, das jetzt schon zum Zipfel geworden ist,zuzuwenden. Dann: „Heut keilt a mir doch raus, der Bost; vier Nächte Schlafjeld kricht a schon, nu is Schluß, sacht a.“
    Ruhig, sachlich, überzeugt davon, daß der Bost im Recht ist, kommen die Worte, unterbrochen von mummelndem Zerkauen der Nahrung, heraus. Die Hitze im Lokal läßt den Schweiß in ganzen Rinnsalen von seinem zerfurchten Gesicht laufen. Aber der Alte ist nicht dazu zu bewegen, seinen Mantel auszuziehen. Wahrscheinlich hat er kein Jackett darunter. Den Hut nimmt er ab. Das schlohweiße Haar legt sich über die Ohren und den Mantelkragen. In dem kupferroten Gesicht liegen die Augen eines geprügelten Hundes. Der zweite Schnaps und eine Zigarre machen den alten Bettler etwas selbstbewußter. „Wo kommste denn jetzt noch her, Vater?“ Er war im Westen, in der Gegend des Wittenbergplatzes, auf der Betteltour. Hintertreppauf — hintertreppab. Seit neun Uhr früh ist er unterwegs. Und alle die feinen Herrschaften der dortigen Gegend haben, zusammengelegt, zweiundsiebzig Pfennig, einige Brotkanten und — der Alte zeigt sie stolz — zwei

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