Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Glacéhandschuhe allzu großer Ähnlichkeit, nämlich zwei rechte, entbehren können.
Als er einen Fall erzählt, kommt sogar etwas wie Empörung in seine Stimme: „Ick kloppe, vier Etaschen hoch, an eene Küchentür. Een Dienstbolzen will ma ’n Sechser jehm, da kommt de Madamm. Warum denn die Leutens immer Jeld jehm, ohne daß sie arbeeten davor, sacht die Olle. Der Mann is doch noch sehr ‚rüsterig‘, der kann doch den Schlafstubenteppich kloppen. Da kam ma aba de Wut hoch.Jeben Se man her, Ihrn ollen Abtreter, den wer ick schon kloppen. Ick krumma Gustav also vier Treppen runta, jekloppt, und wieda hoch. Und wat sacht die Olle? So, lieber Mann, nu ham se Ihre fünf Fennje auch vadient … Det wollte nu ’ne feine Dame sind!“ — In der Herberge in der Gollnowstraße ist der Alte vier Nächte Schlafgeld schuldig, und wenn er nicht heute mindestens zwei Nächte bezahlen würde, würde der Bost ihn rauskeilen.
„Wie alt biste denn, Vater?“ „Vierundsiebzich … nee: zweeundachtz … siebzich Jahre.“ Er weiß es nicht mehr genau. Geboren ist er in Posen. Ob er nun Pole ist oder Deutscher, er weiß es nicht, es ist ihm auch ganz gleich. In der Jugend war er Melker, der fixeste und ehrlichste — er betont es — auf dem ganzen Gut. Und dann entließ ihn der Gutsbesitzer, der Gnädige Herr, weil er einer Kuh, die ihn schlug, in den Leib getreten hatte. Aber das tat nichts. Er mußte doch zum Militär. Dann kam die Landstraße. Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Frankreich und Spanien, alles per pedes apostolorum. Jahre, Jahrzehnte. Bis er, kurz vor dem Weltkrieg, wieder nach Deutschland kam, als alter Mann. Während des Krieges als Arbeiter in irgendeiner Munitionsfabrik und wieder auf der Walze. Jahre und Jahre.
Bis er in Berlin landete und die Viermillionenstadt seine Landstraße wurde, weil es für weitere Wege an der Puste mangelte. Wo seine Eltern gestorben sind, er weiß es nicht, nicht, wo seine fünf Geschwister, wenn sie noch leben, sind. Er ist noch nie in einem Kino gewesen. Ein Buch ist ihm ein Ding, woGeschichten drinstehen, und eine Zeitung scheint für ihn nur den tieferen Sinn des Einwickelpapiers zu haben.
Aber eines hat ihn die lange Praxis gelehrt, sei es nun in Berlin, Italien oder irgendeinem oberschlesischen Nest: Geben, Schenken ist nicht des Reichen Sache. Die hetzen Hunde auf den Bettler oder schlagen die Tür zu. Geben mit der Selbstverständlichkeit des Wissens um Hunger und Elend wird nur der Arme. Der oberschlesische Kumpel, der italienische Tagelöhner oder der Berliner Arbeitslose. Morgen will der Alte in die Arbeiterquartiere des Weddings. Die Gegend kennt und schätzt er. „Kupferfennje, nur Kupferfennje. Aba viel Kleenvieh macht ooch Mist“, sagt er und stülpt betulich den Hut wieder auf. Mit Hut sitzt es sich doch besser.
In einer Anwandlung von Großmut geht Fred bei der Clique sammeln, um dem Alten zum Schlafgeld zu verhelfen. Erfolg: zwei Mark fünfundachtzig Pfennig. Zunächst ungläubig nimmt der alte Bettler die Sechser und Groschen in Empfang. Die wollen sicher einen Jokus mit ihm machen. Dann aber, als er das Geld in der Tasche hat, macht er, daß er aus dem Lokal kommt. Wer hat, hat. Man kann nie wissen: vielleicht versaufen die Jungens alles, und dann verlangen sie das Geld von ihm wieder. Da ist es besser, gleich zu verschwinden. Der Bost wird ihn nicht rauskeilen, er kriegt ja Geld …
Immer neue Veränderungen merkt Ludwig in der Clique. Fred ist plötzlich Kassierer geworden, und jedes Mitglied hat wöchentlich eine Mark in die Cliquenkasse zu zahlen. Jonny, Hans, Fred und Konrad haben mit Anneliese eine feste Schlafstelle bei einem invaliden Zuchthäusler in der Badstraße. Auch Heinz, Erwin, Walter und Georg haben, je zwei zusammen, dauernden Unterschlupf. Wo die nur das viele Geld herhaben, sinniert Ludwig. Zu fragen traut er sich nicht. — Die Jungens brechen auf. In dieser Fülle kann man ja doch kein Wort reden. Sie beschließen, nach dem Schlesischen Bahnhof zu fahren und ins Café Messerstich zu gehen.
Warum das Café Messerstich erstens Café genannt wird und nicht Kneipe, bleibt genau so unerfindlich wie zweitens der blutige Spitzname Messerstich zustande gekommen ist. Die Stammgäste: Orgeldreher, Hofsänger, Lumpensammler, auch Naturforscher genannt, die zumeist mit irgendeinem Gebrechen behafteten Bettler und Bettlerinnen schätzen einen Messerstich nur, wenn er einem nahrhaften Braten oder wenigstens einem Wurstende
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