Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
sich in eine Kneipe und beratschlagen. Was sollen sie tun? Die Clique dazu anhalten, die Diebstähle zu lassen, ist sinnlos. Jede Clique kennt nur „mit uns oder gegen uns“. Mit uns? „Nein, Ludwig. Das mach’ ich nicht!“ „Nee, ich auch nich, Willi!“ Gegen uns? Auch das nicht. „Macht, was ihr wollt! Aber ohne uns, nich Willi?“ „Ja, Ludwig. Aber wie?“ „Na, wir hauen ab von der Clique.“ Wieder allein. Wieder allein in Berlin? Willi denkt an die furchtbaren Nächte und Tage der Obdachlosigkeit und des Hungers. Aber jetzt hat er ja Ludwig. Zu zweien ist es nicht mehr so schlimm. „Und die dreißig Mark? Wollen wir die zurückgeben oder woll’n wir sie behalten?“ fragt Ludwig. Gibt sich selbst die Antwort: „Wenn wir das Geld zurückgeben, sind wir von vornherein pleite.“ „Ist schon besser, wenn wir es behalten …“, sagt Willi langsam und leise, „die Frauen kriegen es ja doch nicht wieder.“
Sie entscheiden sich dafür, einfach zu verschwinden. Die Clique wird dann glauben, sie sind verhaftet worden. Polizeilich gesucht werden sie ja beide. Auch ihr Quartier in der Grenadierstraße werden sie aufgeben. Dort wird die Clique zuerst nachfragen. Die Kleinigkeiten, die sie in der Bude aufbewahren, müssen sie im Stich lassen, wenn sie die abholen, weiß Jonny Bescheid. „Wir müssen von dem ganzen Münze-Kiez verschwinden, Willi. Da sind wir zu bekannt.“ „Wohin aber?“Ihr Entschluß macht sie gewiß nicht froh, sie haben sie schon zu oft erlebt, die Zeiten, wo kein roter Sechser in der Tasche war. Aber mit der Clique auf Arbeit gehen? Da können sie sich nur gleich der Polizei stellen. Daß die Clique eines Tages gefaßt wird, ist doch totsicher. „Und, Willi, du bist doch bald mündig, dann kann die Fürsorge dir sowieso nichts mehr anhaben. Dann kannst du überall sagen, ich bin Willi Kludas, nu gebt mir mal Papiere und Unterstützung … Mit mir ist das alles ganz anders. Ich bin jetzt erst neunzehn. Mich können sie noch zwei Jahre festhalten. Aber lieber geh ich bei die Reichen klauen, wenn ich nischt hab’. Die Clique aber … die beklauen doch immer nur Menschen, die selbst nicht viel haben. Hast gesehn, in die eine Geldtasche war ’ne Stempelkarte. Die müssen jetzt Kohldampf schieben …“
Sie sitzen vor ihrem Bier und grübeln und grübeln. Ohne gültige Papiere, von der Polizei gesucht und dann nichts anstellen? Das ist ein Kunststück, Ludwig und Willi, das noch keiner fertig gebracht hat. Wäre ja noch schöner, ohne Stempel und ohne Unterschrift ein Leben innerhalb der Paragraphen führen zu wollen! Geht zurück in die Anstalt, aus der ihr entlaufen seid. Zeigt Reue und anerkennt den Zwang. Laßt euch schuhriegeln und gelegentlich auch ohrfeigen bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr. Dann wird man wohlwollend erwägen …
Ludwig und Willi tippeln durch die Menschen- und Lichtfluten der Tauentzienstraße. Ihnen ist, als seien sie in einer fremden Stadt. Berlin. Das war für sie die Münze und der Schlesische Bahnhof. Nie war ihnen der Einfall gekommen, einmal in den Berliner Westen zu gehen. Die grauen Straßen mit ihren ersten und zweiten und noch mehr Hinterhöfen, das war ihre Heimat. Hier sind sie, ja wirklich, hier sind sie in der Fremde. In einer reichen, heiteren Fremde, wie es den Anschein hat. Die Menschen haben alle funkelnagelneue Kleider an, als sei heute ein hoher Feiertag und nicht irgendein Mittwoch. Die Läden gleichen Palästen, in denen seine Majestät, der Kunde, gelangweilt nach irgendeiner kostbaren Kleinigkeit sucht. Und die Frauen. Die Damen. Jede, aber auch jede ist so reich gekleidet, riecht so gut, ist so schön. Selbst die kleinen Hunde, die die Damen an ihren Pelz drücken oder neben sich trotten haben, sind mit bunten schönen Decken bekleidet, haben glitzernde Halsbänder. Und ein Hund, ein Hündchen, winziges weißes Wollbündelchen, trug richtige kleine Lackstiefelchen an seinen vier Pfoten. „Hast gesehn, Willi?“
Eine reiche, schöne Fremde. Was wollen schließlich die paar Bettler bedeuten? Die gehören doch gar nicht in diese Gegend. Die sind doch auch aus dem anderen Berlin, aus irgendeinem muffigen Keller oder dem Quergebäude irgendeines dreckigen Hofes gekommen, um hier zu betteln. Das andere Berlin … Hier gibt es sicher keine Herbergen wie die der schlesischen Olga. Und Jungens wie sie sieht man hier auch fast gar nicht. Und wenn, dann gehen sie hier auf denStrich. Manche sind ganz neu angezogen, wenn man hinter ihnen
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