Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
geht, sieht man, daß die Schuhe noch nicht besohlt sind, sauber und lederneu glänzt es zwischen Absatz und Sohle. Die Hosen sind weit und haben eine scharfe Bügelfalte. Und riechen tun die Jungs … nach Pomade und Parfüm. Die verdienen vielleicht ein Geld …
Das sind Willis und Ludwigs Gedanken bei ihrem Einzug in das andere, das westliche Berlin. Ihre Heimat, Alex und Schlesischer Bahnhof, wollen sie vorläufig meiden, damit sie nicht den Blutsbrüdern in die Finger laufen. Willi ist seit vier Jahren nicht im Westen gewesen. Und Ludwig hat die Tauentzienstraße nie gesehen. Bis zum Bülowbogen nur war er gelegentlich gekommen. Sie stehen auf dem Kurfürstendamm, Ecke Joachimsthaler Straße und betrachten die Wunder; lassen die endlosen Autoreihen vorübersausen, beobachten das Feuerwerk der sich wie toll gebärdenden Lichtreklamen und lassen sich geduldig stoßen und beiseiteschieben. Gegenüber dem Bahnhof Zoo, in einer Stehbierhalle, essen sie eine Bockwurst und trinken ein Glas Bier dazu. Dann schlendern sie weiter. Planlos, kreuz und quer, bis sie plötzlich wieder am Bahnhof Zoo sind. Unter der Rendezvousuhr bleiben sie stehen. „Was machen wir, Ludwig? Ist gleich zwölf Uhr.“
Zwei ältere Herren in Pelzen beobachten Willi und Ludwig, reden miteinander und gehen auf die beiden zu. „’n Abend, Jungens.“ Willi und Ludwig schrecken zusammen. Polizei!? Nee, doch nicht, die riechen ja nach Parfüm. „Noch keinen Anschluß gefunden, ihr beiden Hübschen?“Willi und Ludwig sehen sich an: die denken, wir gehen hier auf den Strich. „Wollt ihr nicht mitkommen, einen Schnaps trinken?“ fragt der eine der Herren unentwegt weiter. „Mitkommen, wohin denn?“ antwortet Ludwig endlich mit einer Gegenfrage. „Gott, irgendwohin, wo es nett ist …“ „In die Silhouette “, fällt der andere ein. „Kennen wir nicht, das Lokal“, tut auch Willi den Mund auf. „Also wollt ihr, wir werden euch schon hinführen?“ „Also gut, einen Schnaps können wir ja trinken, nich Willi?“ „Na gut.“
In der Geisbergstraße. Die beiden Jungen werden in eine Tür geschoben. Als sie den Windschutz auseinanderraffen, prallen sie zurück und wollen kehrtmachen. „Was habt ihr denn, Jungs?“ Ludwig murmelt etwas von Arbeitszeug, schlecht angezogen … so ein feines Lokal … „Ach, Unsinn!“ Dann sind sie im Lokal und werden von einem Smoking in Empfang genommen. „Bitte hier, die Garderobe.“ Die Herren ziehen ihre Pelze aus und stehen gleichfalls im Smoking da. Ludwig wird vom Empfangsherrn der Mantel ausgezogen und betrachtet verlegen sein abgetragenes Jackett und die zerknautschte Sporthose. Willi braucht kein Mantel ausgezogen zu werden. Seine Windjacke trägt ein anderer, und sein Anzug bekam damals unter dem D-Zug Köln—Berlin den Rest. Schamrot wird Willi und hält sich die Hand vor den nackten Hals. Aber weder die Herren Kavaliere, noch der Empfangsherr, noch die nicht minder eleganten Gäste nehmen Anstoß an der Kleidung der Jungen. Im Gegenteil, oft recht freundliche Blicke treffen Ludwig und Willi.
Jeder der beiden Smokings hakt sich bei einem Jungenein und führt ihn in eine der kleinen Logen. Während die Eleganten mit der Auswahl des Getränkes beschäftigt sind, betrachten die Jungens ihre Umgebung. Klein, intim ist die Silhouette, alles flammt in einem aufreizenden Rot. Vorn eine Bar und Tische, hinten, links und rechts, Loge neben Loge. Rot glüht die Wandbespannung, rot die weichen Teppiche, rotrot die seidenen Schirme der Beleuchtungskörper. Eine schwüle Atmosphäre, noch bewußt unterstrichen durch die Musik. Herren in eleganten Sakkos oder Smokings; Damen in Abendkleidern, dekolletiert die Arme und halben Brüste. Eine überhitzte Atmosphäre pervertierter Erotik. Frauenaugen kranken nach Mädchenblicken, Männer erhitzen sich an männlichem Fleisch. Kein lautes Wort, kein freies Lachen. Wie Explosivstoff liegt es in der Luft.
Willi und Ludwig in ihrer derben Jungenshaftigkeit haben einiges Aufsehen erregt. Begierden, müde der gebadeten und siebenmal gesalbten Körper, flackern nach der weniger sauberen, aber derberen Kost der Proletarierjungen. Der Kellner, der Herr Kellner, so vornehm er ist, hat einen scharf duftenden Schnaps in irisierenden Schwenkschalen serviert. Zigaretten bringt er. Zehn Pfennig, lesen die Jungen auf der Banderole. Der Schnaps fließt wie feuriges Öl durch die Kehle. Der zweite und dritte beseitigen Hemmungen. Willi und Ludwig duzen sich mit den Smokings
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