Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
und erzählen Streiche aus ihrer Fürsorgezeit.
Vor einigen Stunden dachten Ludwig und Willi, als sie die eleganten Strichjungen auf der Tauentzienstraße sahen: die gehen mit den Herren in ein feines Hotel und klettern in weiße Betten … Um drei Uhr morgens. Vor einem Privathotel in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms halten zwei Taxis. Die beiden Smokings und die beiden Jungen, betrunken und apathisch, gehen in das Hotel. Ludwig und Willis erste Nacht im Berliner Westen. Der Weg von Berlin N und O nach Berlin W pflegt sehr häufig über das Bettlaken eines Privathotels zu führen. — —
Gegen Mittag wachen Willi und Ludwig von einem Lamentieren an der Tür auf. Eines Weibes feister Diskant hinter der Tür fordert die Dreckspatzen auf, endlich das Zimmer zu räumen. Allmählich dämmert es bei den Jungen, wo sie überhaupt sind. In den weißen Betten einer Absteigepension. Die vornehmen Herren waren bald wieder gegangen und hatten je einen Zwanzigmarkschein zurückgelassen. Die vornehmen Herren! Mit dem seidegefütterten Smoking legten sie auch die Vornehmheit ab. Übrig blieben zwei schmalbrüstige und fadenscheinige Männlein, deren Brieftasche es ihnen ermöglichte, junge, gesunde, wenn auch unterernährte Menschen zu kaufen. Willi und Ludwig entsinnen sich der Einzelheiten der Nacht. „Pfui Deibel!“ sagt Ludwig. „Ja, die Kotze kann einem hochkommen. Nie wieder …“
Sie ziehen sich an. Die Bordellwirtin kommt ins Zimmer, ohne die Jungen zu beachten. Sieht in die Betten, in den Schrank, revidiert das ganze belämmerte Inventar desZimmers. „Schade, det Sie gekommen sind, wir wollten grade det Kleiderspinde klauen“, bemerkt Ludwig frech.
Bei Aschinger essen sie zu Mittag. Über fünfzig Mark besitzt jeder. „Du, Ludwig“, beginnt Willi, „hier halt ich es nicht aus. Wo sollen wir hier auch schlafen? Wollen wir nicht wieder nach ’n Norden?“ „Aber wo, Mensch, die Clique ist doch überall!“ „Du! Neukölln!“ kommt Willi der Gedanke. „Neukölln? Ja, da is Jonny wenig. Klar, da machen wir hin. Kurfürstendamm is nischt für uns.“
Im Erfrischungsraum des Warenhauses am Herrmannplatz überlegen sie. Was können wir mit unserem Geld, zusammen hundert Mark, anfangen? In welche Arbeit können wir es als Betriebskapital stecken? Denn arbeiten müssen wir, wollen wir. Gern! Nur nicht wieder zurückmüssen zu den Blutsbrüdern und mit ihnen die Arbeiterfrauen beklauen. Sollen wir handeln? Mit Rasierklingen, mit Bananen, mit Zeitungen, mit Fleckenentfernern? Auf den Wochenmärkten Krawatten zu fünfunddreißig Pfennigen verkaufen oder Spitzen und Strümpfe? Was, was? Aber immer stoßen sie auf das unüberwindliche Hindernis: keine Papiere! Jeder Schupo kann sie wegen unerlaubten Handelns festnehmen. „Nee, Ludwig, das geht alles nicht.“ „Aber was machen wir denn, wenn wir die paar Mark aufgefressen haben. Was denn, Willi?“ „Dann fängt das alte Scheißleben wieder an …“ Es klingt, als habe ein Selbstmordkandidat gesprochen, dem kurz vor dem letzten Atemzug der Gashahn abgedreht wurde. „Willi, wie fein wär’ das: keine Angst vor der Fürsorge haben zu brauchen … richtige Papiere zu haben …“
Beide schweigen. Um sie herum der Lärm des überfüllten Erfrischungsraumes. Menschen mit wenig Zeit sitzen bei einem Getränk. Tassenrand am Munde, fällt ihnen plötzlich ein: Druckknöpfe muß ich noch haben! Oder: August wollte doch gern mal Krabben in Gelee essen! Die Tasse klirrt auf den Untersatz, und der Mensch rast Richtung Fahrstuhl. Aber auch Menschen mit sehr viel Zeit sitzen hier. Die viele Zeit ist so ziemlich ihr einziger Besitz. Hier umkreist sie keinumsatzwütiger Kellner, hier kann man sechs Stunden, acht Stunden bei einem billigen Kaffee sitzen, wenn die Wohnung nur ein kaltes, finsteres Loch ist.
„Du, Willi“, unterbricht Ludwig das Schweigen zögernd, „weißt du, was wir mal versuchen könnten? Ich hab’ mal welche gesprochen, die haben das auch gemacht und gut dabei verdient.“ „Was denn, was denn?“ „Paß auf, Willi: wir nehmen einen Sack. Du ’n Sack und ich ’n Sack. Dann gehen wir von Haus zu Haus, von Tür zu Tür und sagen: Guten Tag. Wir zahlen für alte Stiefel und alte Schuhe bis zu zwei Mark. Haben Sie welche zu verkaufen? Und dann, wenn sie uns welche zeigen, machen wir mies, immer feste mies und geben zuletzt nur ’n Groschen oder zwei für die Trittchens. Und wenn die Säcke voll sind, werden alle Schuhe und Stiefel geputzt
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