Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
und gewienert. Vielleicht könn’n wir auch mit Abfalleder die Absätze grade machen oder einen Fleck auf die Sohle nageln. Wenn dann alles in Schuß ist, verkaufen wir den ganzen Brast an Althändler!“ Ludwig schweigt und blickt Willi gespannt ins Gesicht. „Nu sprech doch! Was denkste darüber?“ „Meinst du denn, daß wir den alten Kram wieder verkauft kriegen?“ „Verkauft!“ triumphiert Ludwig, „na, Mensch, denkste vielleicht, die Arbeitslosen können sich neue Lacktöppe von Salamander kaufen? Die müssen doch alle so ’n alten Dreck tragen!“ „Aber wo eine Bude herkriegen zum Schlafen und Arbeiten an den Schuhen?“ fragt Willi. „Ja, eine Bleibe. Ohne Papiere. Ich hab’ ja welche auf ‚Kaiweit‘, aber die kann ich auch nich auf der Polizei vorzeigen …“, antwortet Ludwig.
Seit einem halben Jahr hat die Rentnerin FriedaBauerbach das Schild aushängen: Zimmer zu vermieten an 1 oder 2 Herren. Bei Bauerbach. Hof, 1. Keller links. „Wolln wir mal reingehen, Willi?“ „Versuchen könn’n wir’s ja.“ Keinem Sonnenstrahl ist es je gelungen, den Wohnkeller der Witwe Bauerbach zu ergründen, und das Tageslicht war nur durch ein raffiniertes Spiegelsystem dazu zu bewegen, einige blasse Schimmer in den Keller zu entsenden. Auf das Klopfen öffnet eine freundliche Sechzigerin. Wegen des Zimmers? „Ja, für mich und meinen Bruder“, antwortet Ludwig.
Das Hinterzimmer ist groß und hat auch ein großes Fenster. Die Aussicht: eine üppig wuchernde Schuttabladeecke. Inventar des Zimmers: zwei eiserne Bettstellen, ein Tisch, ein Schrank, drei Stühle und eine Waschgelegenheit. In der dunkelsten Ecke schämt sich ein scheußliches Plüschsofa. Kostenpunkt für zwei Personen: wöchentlich zehn Mark, inklusive Kaffee, exklusive Brötchen, Heizung und Gasverbrauch. Die Brüder Ludwig und Willi sehen sich fragend an. „Wir mieten“, sagt Ludwig. „Wir heißen Kaiweit. Er Willi und ich Ludwig. Morgen werden wir uns auf der Polizei anmelden. Und jetzt passen Sie mal auf, Frau. Wir handeln nämlich. Wir kaufen altes Schuhzeug und verkaufen es wieder. Und alle Schuhe, so ’n Sack voll täglich, bringen wir hierher und machen sie hier sauber. Sind Sie damit einverstanden?“ Frau Bauerbach ist einverstanden. Sie stellt sogar noch eine finstere Kabuse zur Verfügung. Da können die Schuhe gesäubert und aufbewahrt werden. „Geschäft ist Geschäft. Hauptsache, daß es ehrlich ist“, sagt Frau Bauerbach mit pastoraler Würde. „Hier haben Sie dieerste Wochenmiete, und unsere Sachen bringen wir noch her.“ Sie bekommen die Schlüssel ausgehändigt, und Frau Bauerbach geht mit einem Stuhl nach draußen, um endlich das Schild abzunehmen.
„Nu aber ran an den Kanehl, Willi!“ Sie gehen einkaufen. Zuerst Säcke; kosten nur drei Groschen. Dann große Dosen Schuhcreme, diverse Bürsten und Schnürsenkel. Ein paar Pfund Abfalleder, ein eiserner Dreifuß, verschiedene Sorten Nägel und Hammer und Zangen, was ein Flickschuster braucht. Für ihre eigenen Bedürfnisse etwas billige Wäsche, Toilettegegenstände und einige Lebensmittel, damit sie nur mittags in der Kneipe zu essen brauchen. Alles wandert in zwei große braune Kartons. Dann gehen sie wieder nach Hause. Nach Hause …Wie das klingt … Sie haben ein Zuhause in der Ziethenstraße zu Neukölln.
Frau Bauerbach hat unterdes das Zimmer etwas wohnlicher gemacht. Rücken- und Seitenlehnen des Sofas plustern sich unter weißen Häkeldeckchen, vor den Betten liegen Vorleger aus Flickenmosaiken, und allüberall engelt frisch abgestaubter Nippes. Sogar einen neuen Glühstrumpf für die Gaslampe hat Frau Bauerbach besorgt. Und wenn die Herren — „Herren, haste gehört, Willi?“ — Wünsche hätten, eine Tasse Kaffee oder Tee, Frau Bauerbach macht es gern. Glücklich, mit brennenden Backen, stehen die Jungens in ihrem Zimmer. Ja: ihrem Zimmer! Nicht in einem Fürsorgeschlafsaal, nicht in der Herberge, nein: als möblierte Herren, in ihrem Zimmer! Sie packen ihre Einkäufe aus, bringen das Handwerkszeug und das Leder in die kleine Kabuse, in ihre Werkstatt. Auch hierhat Frau Bauerbach einen Glühstrumpf für die verrostete Lampe gestiftet. Willi holt noch einen Zentner Briketts und Holz, und bald strahlt der Kachelofen Wärme aus.
Die Lampe wird angezündet, der Tisch an das Sofa gerückt, und Frau Bauerbach bringt den erbetenen Kaffee zum Abendbrot. In mächtiger brauner Kanne dampft er auf dem Tisch. Auch Tassen und Bestecke hat Frau Bauerbach
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