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Blutsbrüder

Blutsbrüder

Titel: Blutsbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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hinunterblicken.
    Er bemerkt die Lücke in Emres Deckung, erkennt, dass eine Eisenstange neben einem Papierkorb in der frisch geharkten Erde einer Blumenrabatte steckt, sieht schon die Abfolge seiner Schläge und Tritt e – und hört, ehe er angreifen kann, Hakan zu Emre und dessen Freunden betont nüchtern sagen: »Du bist doch stolz, ein Türke zu sei n – was hast du dann hier auf dem Gymnasium überhaupt verloren?«
    Danach nimmt er Darius in den Arm, umfasst ihn fest, sodass es ihm unmöglich wäre, doch noch zuzuschlagen, und zieht ihn von den anderen fort.
    Darius hört sich flüstern: »Danke, das war knapp.«
    Er sieht, dass Emre zu lange zögert, den Augenblick verpasst, um auf Hakans Beleidigung zu reagieren. Das Zögern raubt ihm die Kraft zu einem Entschluss, nimmt ihm die Chance, noch etwas zu unternehmen. Zuzuschlagen, ein letztes Mal, etwas zu erwidern, mit einem letzten Triumph den Ort des Streits zu verlassen, ehe er vom Gymnasium abgeht, weil er aufgeben muss.
    »Wenn wir jetzt nicht hier in Kreuzberg wären«, flüstert Hakan, »sondern bei Karl May, im Wilden Weste n … dann wären wir Blutsbrüder, oder?«
    Er grinst ein wenig verlegen und Darius erwidert ebenso leise: »Na ja, kein großer Unterschied, nicht wahr?«
    Der Freund lässt ihn los, und während Emre auf dem Hof zurückbleibt, laufen Darius und Hakan, ohne sich noch einmal umzublicken, dicht nebeneinander auf den Eingang der Schule, ihres Gymnasiums zu.

GEGENWART

7
    Darius hat in der Nacht lange wach gelegen. Er hat gegrübelt und sich an früher erinnert, hat eine Weile weinen müssen, er hat gedacht: vorbe i – nicht mehr zu ändern. Während es draußen schon hell wurde, ist er in seinem kleinen Zimmer am Ende des langen Flurs noch einmal aufgestanden und hat sich in der neuen Umgebung umgeschaut. Dann hat er sich wieder hingelegt, hat einen Entschluss gefasst und ist eingeschlafen.
    Als er die alte Wohnung am nächsten Tag betritt, sitzt sein Vater wie immer in der Wohnküche auf dem Sofa und wie immer läuft der Fernseher ohne Ton. Snooker , eine Sportart beinahe so spannend wie Golf.
    Wie immer trinkt der Vater Bier und wie immer schaut er kaum auf, als Darius die Küche durchquert, eher beiläufig »Hallo« sagt und in seinem Zimmer verschwinden will, ohne vom angetrunkenen Vater in ein Gespräch verwickelt zu werden. Wie immer wäre es bloß der Versuch einer Unterhaltung, während der sich sein Vater mit undeutlicher Stimme nach Mitschülern erkundigte, die mit Darius vor Jahren die Grundschule besucht haben und längst vergessen sind. Oder nach seinen Mannschaftskameraden aus derselben Zeit. Darius antwortet dann in Sätzen, die nie länger sind als drei, vier oder fünf Wörter. Er weiß, dass seine Antwort den Vater nicht wirklich erreicht.
    Wie so oft braucht der Vater Zeit, um Darius’ Anwesenheit zu realisieren. Erst als Darius die Tür seines Zimmers schließen will, nuschelt er: »Oh, der Herr Gymnasiast lässt sich wohl wieder häufiger bei sei’m alten Herrn blicken?«
    Darius sieht, wie der Vater das Fernsehprogramm wechselt, achtlos zu einer Übertragung der Forme l 1 schaltet, zieht die Tür hinter sich zu und dreht den Schlüssel im Schloss. Für einen Augenblick überwältigt ihn die Verzweiflung. Er wünscht sich, gemeinsam mit Hakan bei einem Milchkaffee zu sitzen und zu reden, wie sie es früher getan haben: über alles, selbst die vertrautesten Ding e – und jeder Streit wäre vergessen.
    Geht nicht.
    Darius läuft im Zimmer auf und ab. Er wünscht sich, von seiner Mutter, an die er sich nicht mehr erinnert, in den Arm genommen zu werden. Er wünscht sich, noch einmal mit Alina zu tanzen, sie zu küssen, wünscht sich, mit den anderen in Coras Wohnung beisammenzusitzen, und auf dem abgeschabten Linoleum läge der Entwurf eines Plakats gegen die Nazis.
    Alles wäre wunderbar klar, einfach und überschaubar. Ist es aber nicht.
    Es is t – vorbei.
    Je länger er im Zimmer auf und ab läuft, desto größer wird seine Verzweiflung. Bis er sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch setzt, das Gesicht in die Hände stützt, langsam ein- und ausatmet, ebenso langsam bis zehn zählt und sich seinen Entschluss wieder vergegenwärtigt.
    Kurz überkommt ihn ein Anflug von Furcht, weil er noch nicht achtzehn ist. Hastig überschlägt er die verbleibenden Tage und schüttelt unwillig den Kopf. Dann richtet er sich auf, nimmt Pass und Ausweis, Bankunterlagen und Sparbuch aus einem abschließbaren

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