Blutsbrüder
vielen Karl-May-Bände auffallen.
Die Mutter putzt früh am Morgen, manchmal auch spätabends in mehreren Arztpraxen und Rechtsanwaltsbüros. Außerdem arbeitet sie ab und zu in einem Supermarkt an der Kasse.
Obwohl die Mutter sich eilig erhebt, ihr Haar richtet und das schon vorgekochte Essen aufwärm t – der Küchentisch ist gedeckt und Hakan stellt einen weiteren Teller auf das Wachstuc h –, obwohl es keinen Anlass gäbe, ist Hakan die Situation spürbar unangenehm.
Deshalb ist Darius erleichtert, als sie das schweigsame Mahl beendet haben und Hakan ih n – wohl nur, um die Wohnung rasch zu verlasse n – in ein nahes Lokal zu einem Milchkaffee einlädt.
Darius fühlt sich inzwischen gar nicht mehr froh, sondern eher unbehaglich. Der Anblick der müden, abgearbeiteten Mutter, die sich trotzdem gefreut hat, dass Hakan einen Freund mitbringt, geht ihm nicht aus dem Kopf. Kaum dass sie vor ihrem Milchkaffee sitzen, fragt Dariu s – und es wundert ihn, wie leicht ihm die Frage fällt: »Warum haben sich deine Eltern eigentlich getrennt?«
»Meine Mutter hat sich getrennt«, erwidert Hakan. Die Sachlichkeit, mit der er antwortet und Darius dabei anblickt, lässt ihn ungewohnt ernst und erwachsen erscheinen. »Sie ist meinem Vater in vielem entgegengekommen. Hat, als Deutsche, ein Kopftuch getragen. Hat hingenommen, dass er sie schlägt. Nur als er mich geschlagen ha t … Na ja, heute könnte er das nicht mehr.«
Die Art, wie Hakan die Worte betont, lässt Darius schaudern. Unwillkürlich denkt er an den eigenen Vater.
In einer der folgenden Woche n – wieder trinken sie Milchkaffee in einer winzigen Ba r – fordert Hakan Darius auf, von sich zu erzählen, von seiner Familie.
Darius beginnt nach einem kurzen Zögern und es fällt ihm leichter als gedacht. Er beschreibt sein Zimmer, das er nachts abschließt, seit sein Vater viel und regelmäßig trinkt, schildert, wie der Vater die Tage vor dem Fernseher verbringt, erwähnt sogar die Kaninchen, die er sich gerade erst angeschafft hat und die noch keinen Namen haben, streift in seinem Bericht die Streitereien mit seinem Vater, schildert, wie sein Vater ihn schlägt.
Während er spricht, merkt Darius, wie ihm wohler wird, dass ihn die Situation mit seinem Vater weniger stark bedrückt, weil er mit dem Freund darüber redet.
Wieder wirkt Hakan ungewohnt ernst, wieder kommt er Darius reif und erwachsen vor. Nachdem er kurz geschwiegen hat, fragt er: »Hm, und deine Mutter?«
»Kenn ich nicht. Nie gekannt. Spricht mein Vater nicht drüber.«
»Trotzdem«, sagt Hakan leise, »solltest du bald weg von ihm.«
Darius zuckt die Schultern, trinkt einen weiteren Schluck Milchkaffee und murmelt: »Mag sein.«
Einige Tage später nimmt Hakan Darius mit zu einem Imbiss in Neu-Tempelhof, einem angrenzenden Stadtteil. Er hält Darius zurück, als der sich eine Cola kaufen möchte, zieht ihn in den Schatten einer hohen, stark duftenden Hecke und nuschelt: »Nein, warte.« Als könne ihn jemand belauschen, senkt er die Stimme zu einem Flüstern.
»Da drüben, das ist mein Vater, der Türke mit dem Bier. Hat eine Importbraut und zwei neue Töchter, Halbschwestern von mir. Hab ich noch nie gesehen, will ich auch nicht. Die neue Frau ist eine Cousine von ihm. Oder so ähnlich. Macht mächtig einen auf Muselman n – und heimlich trinkt er mit seinen deutschen Kollegen vom Gartenbauamt Bier!«
Darius fühlt sich durch das Vertrauen, das ihm der Freund entgegenbringt, geschmeichelt. Als Hakan sich gerade abwenden will und Darius schon am Arm hinter sich herzieht, entdeckt ihn einer der Männer, die neben dem Kiosk an einem der Tische stehen.
»Ey, Ugur, da is’ dein Sohn! Der Flankengott, der begnadete Dribbler!«
Hakan steht wie erstarrt. Der Vater, flink, beinahe jung, mit den Bewegungen eines ehemaligen Sportlers, läuft über die Straße auf Hakan und Darius zu.
Auf den ersten Blick wirkt er weder wie jemand, der oft Alkohol trinkt, noch deckt sich seine Erscheinung mit Darius’ Vorstellung eines religiösen Muslim, der seine Frau und seinen Sohn schlägt, der eine Cousine aus Anatolien heiratet, weil sie ein Familienmitglied ist und die deutsche Sprache nicht beherrscht.
Als der Vater jedoch vor ihnen steht, Darius ignoriert und Hakan an der Schulter packt, sind seine Augen verhangen, riecht sein Atem nach Bier, klingt seine Stimme selbstmitleidig und schwach.
»Seh dich gar nicht mehr«, sagt er wehmütig, »warum besuchst du mich nie?«
Da Hakan ihm
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