Blutsbrüder
Schreibtischschubfach, fügt weitere Papiere hinzu sowie die wenigen Erinnerungsstücke, die er besitzt, vor allem ein Fotoalbum, das ihm sein Vater zum zwölften Geburtstag geschenkt hat: Fotos von Fußballspielen sind darin eingeklebt.
Zwischen den Seiten des Albums liegen Urkunden, die Darius als besten Spieler verschiedener Turniere auszeichnen. Auf der letzten Seite befindet sich eine Fotografie, auf der das Portal des Gymnasiums zu sehen ist, beleuchtet vom Streiflicht einer warmen Spätsommersonne am Abend.
Zu oft hat Darius sich die Fotos im Album angeschaut, als dass ihn der Anblick noch schmerzt.
Er wickelt die Unterlagen in eine saubere Plastiktüte ohne Aufdruck. Die Tüte schlägt er in ein Handtuch, ein Badetuch, auf dem, fast verblasst, Miroslav Klose abgebildet ist. Handtuch und Tüte kommen in seinen Rucksack. Obenauf legt Darius Kleidung und Wäsche, die er braucht, und zwei Bücher, die ihm am liebsten sind: Huckleberry Finn und Der Fänger im Roggen . Danach sammelt er seine Schulsachen zusammen und packt sie in den abgewetzten Schulrucksack, bemalt und mit zahlreichen Buttons verziert, den er seit Beginn der Oberschule benutzt.
Schließlich füttert er seine Kaninchen, gießt ihnen aus einem Krug frisches Wasser in die Schalen, lehnt sich einige Sekunden auf dem Balkon an die Brüstung, genießt noch einmal den Ausblick über die niedrigen Dächer und erwägt für einen Moment, die Kaninchen doch mitzunehme n – trotz der Bemerkung seines Vermieters, dass er Tiere nicht möge.
Am Ende entscheidet er sich, die beiden in den nächsten Tagen zusammen mit einigen Möbeln, vor allem dem Schreibtisch, abzuholen, streichelt erst das schwarze, dann das weiße, verlässt den Balkon, guckt sich in seinem Zimmer um, das ihm schon gähnend leer vorkommt, obwohl die Möbel noch an ihrem Platz stehen. Er holt seinen Schlafsack aus dem Bettkasten, packt noch ein paar Sachen ein, schiebt sein Messer in die Gesäßtasche, atmet erneut tief durch und öffnet die Tür.
Der Vater braucht einen Augenblick, um zu verstehen, was sein Sohn vorhat. Noch erfasst er nicht das Ausmaß von Darius’ Entschluss.
Um den Vorgang abzukürzen oder auch um sich selber endgültig zu überzeugen, sagt Darius: »Ich ziehe aus.«
Beinahe hätte er ›Papa‹ gesagt, aber das Wort wäre ihm verlogen und falsch vorgekommen. Er hat es nicht mehr benutzt, seit er ein Kind war.
Der Vater auf dem Sofa sieht ihn an. Er hat die Bierflasche auf dem Couchtisch abgestellt. Im Hintergrund drehen die Boliden der Forme l 1 geräuschlos ihre Runden. Für wenige Sekunden bleibt es in der Küche still. In der Zeit spüren Vater und Sohn das Gewicht der wenigen Worte.
Als sich die Erkenntnis einen Weg ins Denken des Vaters gebahnt hat und er begreift, dass die Entscheidung seines Sohnes unumkehrbar ist, packt ihn die Angst.
Darius sieht es an seinem Blick und bemerkt, wie sich der Gesichtsausdruck seines Vaters verändert. Mit einem Mal wirkt der Vater ungeheuer alt. Er sinkt in sich zusammen und alles an ihm scheint zu sagen: Bitte, bleib.
Vielleicht hätte Darius sich den Entschluss noch einmal überlegt, wenn der Vater ihn darum gebeten hätte. Vielleicht wäre Darius über die Endgültigkeit seiner Entscheidung erschrocken oder hätte Mitleid gehabt, wenn ihm der Vater entgegengekommen wäre.
Doch übergangslos ist die Furcht aus dessen Blick gewichen. Barsch fährt er Darius an: »Machst ’n du da? Was hast’n du vor? Wovon willst’n leben? Schnorren? Bei deinem Kanakerfreund?«
»Sei still«, sagt Darius. »Schau in deinen Fernseher. Lass mich einfach gehen.«
»Steh dir nicht im Weg«, murmelt der Vater. »Wäre der Letzt e …«
Mit einer Schnelligkeit, die Angetrunkenen manchmal eigen ist, huscht er aus der Couch hoch und stellt sich zwischen seinen Sohn und die Wohnungstür.
Alle Angst und all die Bestürzung, die ihn eben noch gezeichnet haben, sind aus seinem Gesicht verschwunden und haben einer Boshaftigkeit Platz gemacht, einer Verschlagenheit, die Darius seit Langem an seinem Vater kennt.
»Gib mir den Schlüssel«, sagt er.
»Nein. Erst wenn ich meine übrigen Sachen abgeholt habe.«
Als könne der Vater Gedanken gelesen, entgegnet er hinterlistig: »Bist noch nicht volljährig, Junge. Lass dich von der Polizei wieder zurückholen!«
»Nein«, sagt Darius. Er bleibt ruhig, obwohl ihn ein Schreck durchfährt, den er vor dem Vater nur mühsam verbergen kann. »Wirst du nicht. In ein paar Tagen bin ich achtzehn.
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