Blutsbrüder
Sobald ich die Wohnung verlassen habe, wirst du auf deinem Sofa sitzen, trinken und ohne Pause in die Glotze stieren.«
Später denkt Darius, dass er den letzten Satz nicht hätte sagen sollen.
»Ho«, knurrt der Vater.
Unter der steten Röte wird sein Gesicht aschfahl. »Hoho, mein Soh n – ein neunmalkluges kleines Scheißerchen! Ein Arschloch.«
Er weicht bis an die Wohnungstür zurück, stellt sich davor, breitet die Arme seitlich aus, blickt Darius mit einem fast kindlich wirkenden Trotz starr in die Augen und sagt: »Schlag mich zusammen. Kannst du doch, weiß ich. Konntest du früher schon.«
»Geh weg.«
Für den Bruchteil einer Sekunde spürt Darius, wie ihn die Kraft zu verlassen droht.
»Nee, tu ich nicht.« Der Vater lächelt hämisch, als ahne er die Schwäche seines Sohnes.
Darius stellt den Schlafsack, den Schulrucksack, den großen Rucksack neben sich ab, fährt sich mit den Händen durchs Gesicht, atmet ein, wieder aus, tritt die wenigen Schritte auf den Vater zu, greift ihm unter die ausgebreiteten Arme, packt ihn unter den Achseln und hebt ihn hoch.
Der Vater, fast fünfzehn Zentimeter kleiner als Darius und seit er trinkt beinahe zerbrechlich, wehrt sich nicht, versucht nicht einmal, sich zu widersetzen.
Er lässt die Arme an der Seite herunterhängen, lässt Darius gewähren, der ihn zurück zum Sofa trägt und auf die Kissen der durchgesessenen Couch setzt.
In den Augen des Vaters liest er eine Mischung aus schierem Hass und einer Verlorenheit, die ihn rührt. Als er sich abwendet, rechnet er mit allem. Er will etwas sagen, aber es gelingt ihm nicht. Als er zur Tür geht und seine Sachen nimmt, presst er die Zähne aufeinander.
Ohne sich zu erheben, stößt der Vater in seinem Rücken hervor: »Du bist nicht mehr mein Sohn, bist ein Mistkerl! Ein Hundsfott! So geht man mit seinem Vater nicht um.«
Weil Darius fürchtet, der Vater unterdrücke nur mühsam die Tränen, dreht er sich nicht um, sondern erwidert leise, während er die Wohnung verlässt: »Dein Sohn bin ich schon lange, schon sehr lange nicht mehr.«
Als er vorm Haus auf die Straße tritt, atmet er durch. Er macht sich klar, dass er nur noch ein Mal hierher zurückkehren wird.
Aufblendende Scheinwerfer, ein Auto fährt vorbei. Kaum ist es abgebogen, nimmt Darius ein Geräusch wahr, das er nicht zuordnen kann. Es erinnert ihn an den Gegenwind, den man beim Radfahren spürt.
Darius hört den ersten Aufprall. Kein Klatschen wie bei einem Karton, der auf das Pflaster fällt, oder wie bei Wäsche, die jemand an eine Wand schlägt. Eher ein dumpfer, verhaltener Laut, der sich gleich darauf hinter seinem Rücken wiederholt. Danach hört er den Vater aus dem Fenster rufen: »Hattest noch was vergessen.« Die Stimme klingt, als habe der Vater tatsächlich geweint.
Darius weiß, was hinter ihm auf dem Gehweg liegt. Langsam wendet er sich um und blickt in die gebrochenen Augen von Andrea, dem weißen Kaninchen. Aus dem Maul von Maria läuft Blut. Darius erkennt die Qual, die das schwarze Tier leidet, und bricht ihm mit einem Ruck das Genick.
Als bestimme ein Fluch sein Handeln, kniet er sich aufs Pflaster, stellt sein Gepäck in eine Nische neben dem Hauseingang, zieht den Schlafsack aus seiner Hülle, rollt ihn enger zusammen, bindet ihn mit zwei Stücken Schnur am Rucksackgestell fest und schiebt die Körper der Kaninchen in den regendichten Beutel, der außen violett und innen schwarz ist. Er legt die toten Kaninchen zu seinen Sachen, erhebt sich und schließt die Haustür wieder auf. Sein Gepäck lässt er in der Nische stehen. Er steigt hoch zu seinem Vater, der keine Anstalten macht, die Tür zu blockieren oder mit der Kette abzusperren, einer Kette, die Darius kaum am Betreten der Wohnung gehindert hätte.
Der Vater wartet in der Küche vor seinem Fernseher. Als Darius den Raum zum zweiten Mal betritt, fragt er erstaunlich nüchtern: »Was willst du jetzt machen?«
»Hände waschen.«
Darius flüstert und blickt auf seine Handflächen, die beschmiert sind mit dem Blut und dem Kot der sterbenden Kaninchen.
Als er aus dem Bad kommt, hat sich sein Vater nicht bewegt. Für einen Augenblick stehen sie einander fassungslos gegenüber.
Unentschlossen, was er tun soll, dreht sich Darius in der Küche um sich selbst. Er tastet nach seinem Messer, das in der Gesäßtasche steckt, und betrachtet den Vater. Er schüttelt den Kopf, als müsse er einen Gedanken verscheuchen. Er geht in das Zimmer des Vaters, das er lange nicht
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