Blutsbrüder
nicht antwortet, auch nicht versucht, die Hand des Vaters abzuschütteln, fügt der Vater fast flehend hinzu: »Wir waren schon so lang e … so lange nich’ mehr im Stadio n – warum? Du bis t … mein Sohn!«
»Nicht mehr«, sagt Hakan leise, dabei klar und hart. »Nicht mehr. Und jetzt lass mich los, ich muss mit Darius zum Training.«
***
Dann ist der letzte Schultag und Emre wird wieder sitzen bleiben, er wird die Schule verlassen müssen. Sowohl Hakan als auch Darius sind darüber froh, denn Emre, mittlerweile einer der besten Kickboxer seiner Altersklasse, sucht, so oft es geht, Streit, besonders mit ihnen. Aber nur, wenn Darius und Hakan zusammen sind, gemeinsam etwas unternehmen oder bloß beieinanderstehen. Fehlt Hakan in der Schule, scheint Emre Darius zu ignoriere n – und manchmal ist er sogar überraschend freundlich zu ihm. Fehlt Darius allerdings, muss Hakan besonders vorsichtig sein.
Als Darius den Hof zur letzten Pause vor den Ferien betritt, hat er den Anfang der Auseinandersetzung verpasst. Als er sich der Gruppe nähert, hört er Emre reden, vernimmt den lauernden Ton, der die Worte begleitet, muss weder Hakan noch Emre sehen, um zu ahnen, was im nächsten Augenblick passieren wird.
Emre ist seltsam geworden, denkt Darius, während er sich beeilt. Früher war er oft ein Arschloch, aber er hatte Größe. Jetzt wirkt er wie ein Wicht, beinahe kläglich, und immer wenn ich ihn sehe, ist er mit diesem Cousin unterwegs und dessen kranken Freunden.
»Weißt du«, Emre zischt, wie er in der Grundschule gezischt hat, »weißt du, deine Mutter, Hakan, die is’ eine Hure. Richtige Nutte. Eine Hure, isch schwöre.«
Aber der Slang, denkt Darius weiter, klingt immer noch wie nachgeäfft, wie ein albernes Imitat.
Bevor er Hakan oder Emre zu Gesicht bekommt, meint er sie vor sich zu sehen: Hakans Augen glühen, die Haut über den Wangen ist bleich. Emre hat das Gewicht auf den hinteren Fuß verlagert, weil er auf Hakans Angriff wartet, dem er mit einem Tritt zum Kopf, gegen den Unterleib, unters Kinn begegnen wil l – jetzt, da er die Schule sowieso verlässt.
Darius erwartet den Beginn der Prügelei, als er sich durch die Menge drängt und sich fragt, warum niemand auf dem Schulhof eingreift. Zugleich spürt er, dass die meisten der Situation nicht gewachsen sind, sich fürchten, weil etwas zum Vorschein kommt, das sie nicht kennen. Körperliche Gewalt ist an der Schule eben geächtet, ein Umgang, den Gymnasiasten unwürdig finde n – bis ihnen, Darius lächelt bitter, jemand auf der Straße oder auf dem Schulhof mit aller Kraft ins Gesicht schlägt.
Als Darius neben dem Freund auftaucht, erkennt er erleichtert, dass Hakan sich beherrscht. Zwar glühen seine Augen tatsächlich, zwar bebt er am ganzen Körper und hält die Fäuste geballt, aber statt Emre anzugreifen, sagt er gefährlich leise: »Redest du von deiner Mutter? Meine Mutter ist Deutsche.«
Darius muss Emre nur anschauen, um zu wissen, was in ihm vorgeht. Emre kann nicht weitersprechen, da es ihm trotz aller Mühe kaum gelingt, sich zu beherrschen. Schlag mich, sagen seine Augen, schlag mich richtig zusammen, du Streber. Obwohl es so aussieht, als würde ich mich wehren, trete ich nicht zu. Schlag mich blutig, Hakan, hier auf dem Schulhof des Gymnasiums, das mich nicht will. Das mich wegschickt, das mich ablehnt, weil ich ein richtiger Türke bin, kein beschissener Vierteldeutscher wie du. Schlag und tritt auf mich ein, wenn ich am Boden liege. Denn dann fliegst du von der Schule genauso wie ich. Und wenn du nicht sehr viel Glück hast, nimmt dich niemand mehr, kein anderes Gymnasium.
Aber Hakan wirkt mit einem Mal besonnen und kühl bis in die Fingerspitzen. Obwohl die meisten sich mittlerweile abgewandt haben, nichts mehr mit dem Streit zu tun haben wollen, sodass allein Hakan und Darius Emre und dessen Freunden gegenüberstehen, bleibt Hakan ruhig und sagt mit einer Kälte, die Darius noch lange danach zu spüren meint: »Was soll das? Du bist doch schon gar nicht mehr hier.«
Er dreht sich um und will zurück ins Gebäude gehen.
Gerade als er der Gruppe um Emre den Rücken kehrt und Darius denkt: Jetzt ist es überstanden, wendet sich Emre unvermittelt an Darius, den bislang Unbeteiligten, indem er sagt: »Hast du keinen besseren Freund als diesen Bastard? Kriegst du keinen ab?«
Für die Länge eines Lidschlags sieht sich Darius von oben auf Emre und die anderen, auf Hakan und sich selber, auf den Schulhof
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