Blutsbrüder
hat.
Eigentlich gelingt Darius nie eine schlagfertige Erwiderung. Doch diesmal hat er eine Idee, vielleicht, weil ihm die Lehrerin auch sonst oft auf die Nerven geh t – mit ihrem häufigen Schwärmen für die Türkei, das Hakan fast immer peinlich ist, obwohl er nie etwas sagt.
Die Lehrerin, die seinen hoch aufgereckten Arm sieht, nimmt an, er interessiere sich für ein bestimmtes Land. Erst will sie unwillig abwinken, weil er noch nicht an der Reihe ist, besinnt sich aber. Darius meint ihre Zufriedenheit über seinen Eifer zu spüren.
»Bitte?«, hört er sie sagen.
»Ja. Als o …«
Darius hat Mühe, sich nicht zu verhaspeln. Er sammelt sich und entgegnet laut und übertrieben deutlich: »Ich möchte noch was zu Hakan sagen und der ihm von Ihnen zugewiesenen Türkei.«
Darius sieht, wie die Lehrerin die Stirn runzelt, nimmt wahr, wie still es in der Klasse wird, bemerkt die Blicke, die auf ihm ruhen: von Cora, Tomtom, Marvin und Alina, Simon und Jan-Niklas, Freunde von Hakan, mit denen er die trainingsfreien Nachmittage verbringt.
Auch die anderen Mitschüler beobachten Darius. Schauen ihn an und warten ab. Doch er spürt bloß die Blicke von Hakan und dessen Freunden.
»Ja, also?«, fragt die Lehrerin.
Darius nimmt das Misstrauen in ihren Worten überdeutlich wahr.
Leise, aber klar und ohne zu zögern, sagt er: »Wenn Sie Geschichtslehrerin wären, müsste Hakan dann über die Türken vor Wien referieren?«
Besonders stolz ist Darius auf das Wort referieren , obwohl er es im nächsten Moment ebenso vergessen hat wie den genauen Wortlaut seiner Frage.
Denn nach einem Augenblick, in dem weder die Lehrerin etwas auf Darius’ Einwurf entgegnet noch sonst jemand in der Klasse redet oder sich regt, beginnen erst Tomtom und Alina, dann Cora, Marvin, Simon und Jan-Niklas, schließlich alle mit den Fingerknöcheln auf die Tische zu pochen, sodass Darius eine Gänsehaut auf seinem Rücken und in seinem Nacken spürt.
Der Beifall hält an, bis die Lehrerin ihn unterbricht und schroff zu Hakan sagt: »Gut! Du kannst noch wählen: Malta oder Moldawien. Island ginge auch.«
Das Frühjahr und den Sommer verbringen Tomtom und Alina, Hakan, Cora und Marvin, Simon und Jan-Niklas mit Darius im Freibad. Es ist ein Sommer wie in einem langen, lichten Traum.
Als es Herbst wird, äußert Tomtom zum ersten Mal die Idee zu einer Antifa-Gruppe, ein Gedanke, den sie jedoch erst mit Beginn des folgenden Halbjahrs ernsthaft diskutieren.
Zunächst aber stehen sie nach der Erdkundestunde noch eine Weile zu acht vor dem Schulgebäude, reden über dies und jenes, bis Tomtom Darius mit der geballten Faust leicht an die Schulter bufft und sagt: »Das wa r … erstaunlich! Wirklich: meinen Respekt!«
Danach schlendern er und Hakan mit Alina, Cora und Marvin zur Bushaltestelle, während Simon und Jan-Niklas, die wie Tomtom einen weiteren Heimweg haben, auf ihre Fahrräder steigen und durch den Park nach Hause radeln.
Froh und glücklich wie selten begleitet Darius Hakan nach Hause.
Obwohl sie einander derart lange kennen und zusammen Fußball spielen, hat er den Freund noch nie in dessen Wohnung besucht. Nie feiert Hakan Geburtstag, nie lädt er jemanden zu sich ein, so jedenfalls ist es Darius bisher vorgekommen.
Doch heute ist alles anders. Heute fühlt sich Darius, als schwebe er auf einer Wolke, als bewege er sich einige Zentimeter über dem Boden und als könne nichts das Gefühl zerstören. Er fragt Hakan, ob er noch mit in dessen Wohnung kommen könne, übergeht den Zweifel, der Hakan ins Gesicht geschrieben steht, schildert zum wiederholten Mal die Verblüffung der Erdkundelehrerin und lacht, als Hakan meint: »Leicht wirst du’s bei der die nächste Zeit nicht haben.«
Hakan lebt mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung im Hochparterre.
Von der Küche aus geht eine Tür auf eine schmale Terrasse, an die sich nach wenigen Stufen ein drahtumzäuntes Hinterhofgrundstück anschließt, das überwiegend im Schatten einer halb verfallenen Mauer zu einem leer stehenden Fabrikgelände liegt. In dem vielleicht vierzig Quadratmeter großen Garten hat Hakans Mutter Gemüse angepflanzt, Radieschen, Karotten, Tomaten, Kartoffeln.
Als Darius und Hakan die Wohnung betreten, schläft die Mutter auf einer Couch im Wohnzimmer, das zugleich ihr Zimmer ist. Hakan nutzt das zweite, kleinere Zimmer, eher eine Kammer mit einem einzigen Fenster, das von einem Vorhang aus dunklem Efeu beinahe verdeckt wird und in dem Darius vor allem die
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