Blutsbrüder
Glatzen immer in der Mehrheit. Die haben den Ton angegeben und ich hab dazugehört.«
Darius wartet, ob sie mit ihrer Schilderung fortfährt, aber Rike schweigt. Kurz denkt er an seine früheren Freunde, überlegt, wie seltsam sie es fänden, sähen sie ihn mit Rike Hand in Hand hier in der Dunkelheit. Für Augenblicke kommt er sich wieder vor wie ein Verräter.
Doch er verscheucht den Gedanken, unterdrückt auch die Frage, was denn jetzt mit ihren alten Freunden sei, legt einen Arm um ihre Schulter und zieht sie enger an sich. Ohne Eile queren sie das Viertel in der Einflugschneise.
Darius sieht das Minarett, den Turm der katholischen Kirche, erinnert sich an die Jungen, die ältere Frau und den Hund. Es kommt ihm vor, als seien nicht Wochen, sondern Jahre vergangen.
Er erzählt Rike von dem Zwischenfall mit den arabischen Jungen, und während sie weiterlaufen, entgegnet sie, nachdem sie einige Zeit gezögert hat: »Ist doch auch rassistisch, oder?«
»Aber sie haben nix getan.«
»Na ja: ›Scheiß Schlampe! ‹ … ›Du bist eine Sau, alte Frau ‹ … Und wenn ihr nicht vorbeigekommen wärt?«
Darius zuckt die Schultern. »Keine Ahnung.«
Sie nähern sich dem versteckten Platz bei den Friedhöfen. Der Geruch nach Kompost und Kerosin liegt in der Luft. Am Himmel ziehen vereinzelt Wolken. Der Scheinwerfer vom Flughafen lässt sein Licht in stetem Abstand kreisen und leuchtet die zerzausten Pappeln vor der Friedhofsmauer an.
»Wir«, sagt Rike nach einiger Zeit, und es klingt, als schäme sie sich, »wir haben einigen übel mitgespielt.«
Sie fährt sich durchs Haar, schüttelt den Kopf, dann geht sie weiter.
»Als Mädchen war ich nicht immer dabei. Aber wen n … es war mies, richtig mies. Manchmal hör ich im Schlaf das Knacken, das Geräusch, wenn einer von uns derbe zugetreten hat.«
Darius denkt an seinen Tritt gegen den narbigen Cousin und erwidert nichts.
Wieder nimmt er Rikes Hand, als sie den versteckten Platz am alten Friedhof erreichen, und steigt mit ihr von den Erdhügeln aus über die Friedhofsmauer. Gemächlich laufen sie an den verwitterten Grabstellen und Mausoleen vorbei über die ausgedehnten, aneinander anschließenden Friedhöfe, die in der Nacht angenehm still und verlassen sind.
Er weist Rike auf seine Schule hin, den klobigen Schattenriss jenseits der Straße, und danach gelangen sie zu den ersten Häusern hinter einem Tankstellengelände, die kahl und schmucklos wirken wie große graue Kartons.
Plötzlich bleibt Rike stehen und zeigt hoch zum Himmel.
»Der Polarstern. Der Nordstern. Weist den Weg.«
»Hm«, sagt Darius, weil er nicht weiß, worauf sie hinauswill.
»Früher, als Kind«, Rike zögert, bevor sie, immer noch verhalten, fortfährt: »Früher dachte ich, es gäbe auch einen Südstern und der sei noch viel wichtiger. Der zeige nicht den Weg, sondern das Ziel.«
Sie lacht verlegen, sieht Darius an, der ebenfalls stehen geblieben ist und der, ehe er weitergeht, nachdenklich erwidert: »Das ist ein schöner Gedanke. Den müsste es geben, den Südstern. Dann würden wir uns seltene r … verirren, oder?«
Er legt einen Arm um Rikes Schulter. Sie lehnt den Kopf an seinen Hals. Und dann erreichen sie die Waschanlage, die Garage für kleinere Reparaturen. An der Tankstelleneinfahrt hält Rike wieder an. Das fahle Licht der Firmeninschrift beleuchtet ihre blauen Haare, die aussehen wie Metall.
»Warte«, sagt sie, »wenn wir noch zu dir gehe n – ich muss morgen sehr früh raus. Stell mich bei einem Betrieb vor. Die nächsten Tage übrigens auch. Bewerbungsmarathon. So was wie fünf Uhr, vielleicht sogar schon halb fünf muss ich aufsteh n …«
»Na ja, nicht schön.« Darius zögert.
Und dann weiß er mit einem Mal, dass es dumm wäre, sich jetzt von ihr zu trennen. Langsam beginnt er zu lächeln.
»Bis morgen«, sagt er leise, »ist eine Menge Zeit.«
Sie stehen in der Mitte des großen, fast leeren Gemeinschaftsraums. Auf dem Fensterbord blühen die Kakteen leuchtend rot. Das Mondlicht gleitet über das glänzende Parkett. Auf dem Boden liegen zwei Matratzen.
Darius schiebt wahllos eine CD in den Player, einen trägen Tango. Rike öffnet ein Bier. Sie küsst Darius, der denkt: So müsste es ewig bleiben.
Sie entkleiden sich langsam. Bis ihre Sachen den Boden um sie her bedecken und das Mondlicht die Körper weiß beleuchtet. Wieder bewundert Darius, wie durchtrainiert Rike ist. Wieder spürt er den Sog der weichen, dunklen Stimme, als sie auf ihn zutritt
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