Blutsbrüder
und wispert: »Komm.«
Für einen Moment ist es still im Zimmer, weil die Musik in beiden Boxen verstummt.
Dann sagt Rike leise: »Bald bist du achtzehn.«
***
Als Darius das erste Mal aufwacht, ist Rike schon gegangen. Die Vögel singen und Darius schläft wieder ein.
Als er das zweite Mal aufwacht, ist es später Vormittag. Widerwillig schlägt er die Augen auf und schaut sich um. Neben seinem Kopfkissen findet er einen Zettel, auf dem ihm Rike eine Nachricht hinterlassen hat.
Bin los. Melde mich. Bis zu deinem Geburtstag! Kuss! Friederike.
Darius braucht eine Weile, um richtig wach zu werden. Während er in dem großen, hohen, sonnenhellen Gemeinschaftsraum auf den Matratzen liegt und denkt: Ist wirklich besser hier als in meinem winzigen Zimmer, fallen ihm die toten Kaninchen im Gefrierfach ein. Der Gedanke ist ihm unangenehm und er beschließt, die Tiere heute noch zu begraben.
Zunächst gelingt es ihm nicht, den Beutel, der im Fach festgefroren ist, von den vereisten Wänden und vom Boden zu lösen. Das Gefrierfach des Kühlschranks scheint mit der Schlafsackhülle und den Körpern der Kaninchen verwachsen.
Darius zerrt erfolglos an der dunklen, steif gewordenen Kordel des schwarzvioletten Sacks.
Als er mit einer leeren Glasflasche dagegen schlägt, löst sich nur ein Stück Eis, klirrt auf den gefliesten, hellgrauen Küchenboden und zerspringt.
Super Tag, denkt Darius. Soll nur so weitergehen.
Er setzt sich auf einen Hocker und trinkt einen ersten Kaffee. Dann nimmt er eine Schüssel aus dem Regal, sucht einen frischen Putzschwamm und schaltet den Heißwasserboiler an.
Als er vorsichtig versucht, den Stoff des Schlafsackbeutels mit lauwarmem Wasser anzutauen, hat er den Eindruck, auch die toten Tiere werden wieder weich.
Angewidert kippt er das Wasser weg und durchsucht die Küchenschubladen, bis er einen stabilen Schraubenzieher findet.
Jedes Mal, wenn sich das Werkzeug in eines der leblosen Kaninchen bohrt, hat Darius Mühe, sich nicht zu übergeben. Nachdem er die Tiere aus dem Fach gebrochen hat, umwickelt er sie mit mehreren Plastiktüten, duscht ausgiebig, trinkt einen letzten Kaffee und macht sich mit den toten Kaninchen auf den Weg.
Inzwischen ist es Mittag, bald Nachmittag geworden.
Als Darius auf dem versteckten Platz am Friedhof ankommt, ist dort niemand, obwohl ihm die Rufe türkischer Jungen anzeigen, dass eine größere Gruppe in der Nähe sein muss.
Der feine Duft des Kerosins zieht vom nahen Flughafen herüber und mischt sich mit dem Geruch des Komposts, der in mächtigen Haufen auf dem verwilderten Teil des Friedhofs verrottet. Die Fliegen summen um Darius herum, als er die von Blut getränkte schwarzviolette Hülle des Schlafsacks aus den Plastiktüten wickelt. Die Hitze hat seit Tagen kaum abgenommen.
Darius sucht sich eine Stelle in einem Gebüsch dicht an der Friedhofsmauer, die vom Platz aus nicht einzusehen ist. Er scheut sich, über die Mauer zu steigen, um Andrea und Maria auf dem Friedhof zu beerdigen, auch wenn die Grabstellen jenseits der Mauer fast alle aufgegeben sind und von niemandem mehr gepflegt werden. Aber es sind keine Gräber von Tieren.
Er beginnt zu graben, wühlt mit den Händen ein Loch in die Erde, wird nach einer Weile ruhiger, denkt an den Blick seines Vaters, als er dessen Zimmer verlassen hat, an die Verlorenheit in seinen Augen, an die Ohnmacht, die sein Körper zu verströmen schien, und empfindet, obwohl er sich dagegen sträubt, eine Genugtuung, die sich in seinem Innern ausbreitet wie ein glühender Kern.
Vorbei, denkt Darius und formt mit dreckstarren Fingern zwei Abteile, die er mit Laub und dünnen Ästen auslegt.
Als er die toten Körper vorsichtig aus der Hülle hebt, das Fell wirkt stumpf, verkrustetes Blut hat die schwarzen und weißen Haare verklebt, hört Darius hinter sich in den Büschen ein Geräusch. Er fährt herum und zieht das Messer aus der Gesäßtasche.
»Schon gut«, sagt Hakan und schiebt einige Zweige zur Seite. »Hab dich gesehn. Hab beobachtet, wie du hier drin verschwunden bist. Was tust du da eigentlich?«
»Wen begraben«, erwidert Darius und wundert sich, wie kalt er dem früheren Freund antwortet. »Muss dich nicht interessieren.«
Unschlüssig tritt Hakan von einem Fuß auf den anderen, ehe er sich einen Ruck gibt und ziemlich kleinlaut sagt: »Ist zwar ein blöder Augenblick, aber du warst ja tagelang nicht mehr in der Schule. Also: Es tut mir leid. Hatte mich da in was verbohrt. War vielleicht wirklich
Weitere Kostenlose Bücher