Blutsbrüder
gegen sein nacktes Schienbein.
»Du hast mich verletzt!«, keift der Junge, den Darius nun als Ömer, als Emres jüngeren Bruder erkennt und der nicht mitzubekommen scheint, dass er Alina vor Kurzem den Bikini zerrissen hat. Er reagiert so, denkt Darius, weil er es so gewohnt ist. Oder er ist tatsächlich, wie Alina sagt, dumm.
Drohend hebt Ömer seinen Stock und schlägt mit dem angespitzten Ende auf den Fahrradlenker. Dabei trifft er Alinas Finger.
Vor Schreck lässt sie den Lenker los. Das Fahrrad kippt um und fällt dem Jungen auf den Fuß. Ein Metallteil trifft ihn an der großen Zehe.
Mit wutverzerrtem Gesicht hebt er noch einmal den Stock. Ebenso wie die anderen Jungen, die von der plötzlichen Zuspitzung überrascht sind und sich nicht zu verhalten wissen, verharren auch Darius und Hakan in den ersten Augenblicken wie erstarrt.
Als Ömer, der Alina offenbar immer noch nicht wiedererkannt hat, argwöhnisch fragt: »Bist du deutsch?«, setzt sich Hakan in Bewegung. Als der Junge seinen Stock in Alinas Richtung stößt, die sich gerade nach ihrem Fahrrad bückt, ihre geröteten Finger reibt und ärgerlich sagt: »Spinnst du?«, rennt auch Darius los.
Der Junge hat alle Wut und alle Kraft in den Stoß mit dem Stock gelegt, und da Alina ihn anschaut, während sie mit ihm spricht, trifft die Spitze des Stocks sie dicht über dem Auge und fügt ihr eine stark blutende Wunde an der linken Braue zu.
»Im ersten Moment«, sagt Alina später, »habe ich keinen Schmerz empfunden. Nur gespürt, dass etwas aufreißt. Ein Gefühl, als würde meine Haut neben dem Auge auseinanderklaffen. Ein bisschen so, als gehöre der Teil meines Gesichts gar nicht zu meinem Körper.«
Unwillkürlich tastet sie mit der unverletzten Hand nach der aufgeplatzten Braue. Als sie ihre Finger ungläubig betrachtet, registriert si e – wie auch Hakan, wie Darius und die Junge n – das Blut, das an ihren Fingerspitzen klebt, ihr an der Wange herunterläuft und ihr vom Kinn auf das leuchtend gelbe T-Shirt tropft.
Nur einen Augenblick danach werfen die Jungen ihre Stöcke von sich und tauchen in den Büschen unter. Sie flüchten wortlos und so rasch wie möglich. Ömer jedoch, der Alina vielleicht unwillentlich verletzt hat, bleibt einfach vor ihr stehen. Er umklammert seinen Stock, betrachtet wie gebannt das Blut, das sich wie ein fadenscheiniger Vorhang auf ihre linke Gesichtshälfte legt, und wirkt, als Hakan an ihm rüttelt, steif wie das Holz in seiner Hand.
Hakan ist außer sich vor Wut, er bebt am ganzen Körper. Nur weil ihm Darius eine Hand auf die Schulter legt, schlägt er nicht zu. Während Alina nicht weiß, was sie gegen das Blut tun soll und immer wieder den Kopf schüttelt, bringt Hakan in seinem Zorn keinen Laut heraus. Vor Furcht wie versteinert steht Ömer vor ihm und wagt den Stock weder zu heben noch fortzuwerfen. Sein Blick ist schreckgeweitet. Erst jetzt scheint er Alina wiedererkannt zu haben.
»D u …«, stößt Hakan schließlich hervor, »du!«
Er entwindet sich Darius und spuckt dem verschüchterten und schuldbewussten Jungen mehrmals ins Gesicht. Nun erst lässt Ömer den angespitzten Stock fallen. Er wischt sich mit den Fingern über Stirn und Augen, blickt auf die Spucke an seiner Hand. Darius sieht, wie sich in seinem Innern etwas verändert.
»Ich hole meinen Bruder«, sagt Ömer mit kaum vernehmbarer Stimme. »Emre wird dich schlagen, weil du mich angespuckt hast.«
Hakan zögert keinen Augenblick, ehe er fast ebenso leise erwidert: »Hol ihn. Sag es ihm. Sag ihm, ich werde am Abend hier auf ihn warten.«
Darius und Hakan haben Alina zu einem Arzt in der Nähe gebracht. Entgegen dem ersten Anschein hat sich die Wunde als relativ harmlos erwiesen und ist mit vier Stichen genäht und mit einem speziellen Pflaster geklammert worden. Anschließend ist Alina nach Hause gegangen. Nach einem Abstecher in seine neue Wohnung hat Darius Hakan zum Platz am Friedhof begleitet, obgleich ihm dabei nicht wohl ist. Hakan aber hat unbedingt dorthin zurückkehren wollen.
Als sie den Platz betreten, bleibt Hakan kurz stehen und sagt mit einem ungewohnten Anflug von Weichheit in der Stimme: »Danke, dass du mitgekommen bist.« Der Blick, mit dem er Darius anschaut, wirkt hilflos, wie eine verzweifelte Bitte.
Beschämt senkt Darius die Augen und murmelt: »Kein Problem.«
Jetzt sitzen sie seit einer Viertelstunde auf einer Bank und warten. Seit ungefähr zehn Minuten haben sie kein Wort mehr miteinander gewechselt.
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