Blutsbrüder
Er weiß nicht, was er hinzufügen und wie er weiterreden soll. Er guckt sich um, erkennt, dass die anderen warten, weil er das Schweigen gebrochen hat, überleg t – und fährt wenig entschlossen, eher ratlos fort: »Wisst ihr, manchmal, da denke ich: Was tun wir eigentlich?« Er lacht verlegen. »Reimt sich.«
Die anderen knacken mit den Gelenken oder räuspern sich.
»Na ja, ich meine«, Hakan fuchtelt nervös mit den Händen, deutet über seine Schulter zurück in die Richtung, aus der sie gerade gekommen sind, »wir kämpfen gegen Nazis. Aber die gibt’s hier bei uns in Kreuzberg doch gar nicht. Die trauen sich überhaupt nicht hierher. Den Ärger, den machen bei uns ganz andere Arschlöcher. Habt ihr ja gesehen.«
Weil keiner etwas zu antworten weiß und weil auch Hakan nichts hinzufügt, trennen sie sich schließlich doch und gehen erschöpft nach Hause.
Nur Darius, den niemand mehr beachtet und der darüber froh ist, bleibt im Schatten einer Markise stehen. Er blickt dem Freund, der ihm kurz auf die Schulter geschlagen hat und der nun mit gesenktem Kopf und ohne weiteren Gruß davontrottet, eine Weile nach. Darius möchte Hakan noch etwas hinterherrufen, aber es fällt ihm nichts ein, und dann ist auch der Freund um eine Ecke verschwunden.
***
Darius hat weder Cora und Marvin, die zusammenwohnen, noch sonst jemanden aus der Gruppe gefragt, ob er dort übernachten kann, die seltsame Atmosphäre hat ihn daran gehindert. Allerdings empfindet er beim Gedanken an seine Wohnung und an seinen Vater ein Unbehagen, das ihm vertraut ist wie kein anderes Gefühl.
Oft, wenn Darius nach Hause kommt, ist sein Vater betrunken. Manchmal wird er laut gegen seinen Sohn und versucht sich über ihn lustig zu machen. Häufig, indem er auf die Kaninchen anspielt, ein weißes, ein schwarzes, die Darius auf dem kleinen Balkon vor seinem Zimmer hält und mit denen er sich nicht selten in eine Zimmerecke zurückzieht. Dort sitzt er dann und hört Musik, während er die Kaninchen zwischen den Ohren krault.
»Mein Sohn ist ein Mädchen«, nuschelt der Vater beispielsweise, »mein Sohn ist eine Püppi, zum Kotzen!«
Darius hört nicht auf ihn, auch nicht, wenn ihn der Vater »meine Schwuchtel« nennt. Er ist nur einmal laut geworden, als sich der Vater, noch betrunkener als sonst, das weiße Kaninchen, Andrea, plötzlich geschnappt und angedroht hat, er werde es schlachten und braten.
»Ist ja widerlich, wie du da in der Ecke hockst und die Viecher befummelst!«
»Tu es«, hat Darius gesagt, »und ich mach dich fertig!«
Der Vater ist noch eine Weile mit Andrea, dem weißen Kaninchen, vor dem Herd auf- und abgegangen, hat einen Topf aufgesetzt, ohne das Gas anzuzünden. Darius hat mit dem schwarzen Kaninchen, Maria, in einer Ecke gestanden, in der anderen Hand das Messer, das ihm sein Vater zum zehnten Geburtstag geschenkt hat.
Darius hat gewartet. Nach einer Zeit hat der Vater Andrea, das weiße Kaninchen, mit gesenktem Kopf auf den kleinen Balkon gebracht und in die gepolsterte Kiste gesetzt.
»Bist trotzdem eine Schwuchtel.«
Darius hat das Messer zurück in die Scheide gesteckt und den Ekel gespürt, der ihn in einer solchen Situation überkommt. Wie mein Vater, hat er gedacht und das Messer in der Lederhülle betrachtet. Bin schon fast wie mein Vate r – wie ein stumpfes, verkommenes Tier.
Als er die Wohnungstür aufschließt, hofft er, sein Vater werde schon schlafen, aber sein Hoffen ist vergeblich.
Der Vater döst in der Wohnküche auf dem Sofa. Der Fernseher läuft ohne Ton, eine Sportübertragung auf einem der vielen Kanäle. Wortlos will Darius die Wohnküche durchqueren. Er bewegt sich auf Zehenspitzen, trotzdem wird sein Vater wach, schreckt in den Kissen auf und fuchtelt mit den Händen. Erst nach einigen Momenten weiß er, wo er sich befindet.
»Ah, mein feiner Herr Sohn.«
Er langt nach einer Bierflasche, verschüttet den ersten Schluck, indem er das Bier am Mund vorbei über das Kinn laufen lässt.
»Zu fein für mich, der Herr Gymnasiast. Wieder bei seinen Schwuchtel- und Türkenfreunden gewesen?«
Darius atmet tie f – einmal ein, einmal au s – und vermeidet jede Entgegnung. Weder nickt er noch bleibt er bei seinem Vater stehen, weder erwidert er den Blick des Vaters noch sucht er im Kühlschrank nach etwas Essbarem, das dort an manchen Tagen neben dem Bier zu finden ist.
Aber er zögert, statt rasch in sein Zimmer zu gehen, die Kaninchen zu füttern und das Schnitzelbrötchen zu essen, das
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