Blutsbrüder
kennt.
»Hallo«, sagt Emre leise und in den leicht gedehnten Silben schwingt ein lauernder Unterton mit. »Hab gehört, ihr ärgert jetzt kleine arabische Jungen? Alle Nazis ausgerottet? Jetzt als Hunderetter unterwegs? Klingt irgendwie seltsa m …«
Noch bevor Darius aufblickt, spannt er sich innerlich und nimmt eine Position ein, die es ihm ermöglicht, rasch zurückzuschlagen. Oder auszuweichen, falls er angegriffen wird. Dann bemerkt er, dass Emre, durchtrainiert und drahtig und muskulös wie immer, allein ist.
Nur Ömer, sein jüngerer Bruder, jongliert einige Meter entfernt mit einem Fußball. Er hält ihn geschickt in der Luft und fragt, trotz seiner erst dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre, jede Gymnasiastin, jede Fahrradfahrerin mit längeren blonden Haaren, ob sie einen Freund habe oder seine Freundin werden möchte. Keines der Mädchen beachtet ihn.
Betont beiläufig sagt Darius: »Hat sich also rumgesprochen, wie?«
»Der eine, der Kleinere, spielt mit Ömer Fußball.« Emre deutet mit dem Kopf in die Richtung seines jüngeren Bruders. Darius bemerkt den Blick, warm, beinahe zärtlich, ein Blick, der ihm kaum zum Verhalten von Ömer zu passen scheint.
»Ah ja«, sagt er gleichmütig, während er hört, wie im Schulgebäude lautes Lachen durch die Gänge im Hochparterre hallt. Emre, der ebenfalls auf die sich nähernden Stimmen und Schritte aufmerksam wird, pfeift nach seinem Bruder, ein zischendes Pfeifen, dem Ömer sofort Folge leistet, und sagt zum Abschied, auch diesmal mit fast drohendem Unterton: »Bleibt bei euren Nazis. Ist besser für euch.«
Dann biegt Emre mit Ömer um die Ecke, ohne dass Hakan ihn zu Gesicht bekommt.
Sie haben noch knapp eine Stunde Zeit.
Während Darius gedankenverloren in die Richtung schaut, in der Emre mit seinem Bruder verschwunden ist, und staunt, wie schnell Emre Wind von dem Zwischenfall mit der Frau und dem Hund und den beiden Jungen bekommen hat, mustert Hakan den Freund, schüttelt den Kopf, feixt und murmelt: »Döner? Essen bessert die Laune. Das ist immer so.«
Verblüfft dreht sich Darius zu Hakan um. Dann lacht er erleichtert, grinst, bufft den Freund kurz in die Seite und nuschelt: »Hast Recht. Okay. Wo? Bei Habibi ?«
Hakan hat ihn eingeladen, und als sie jetzt auf einer Bank nahe dem Eingang der weitläufigen Friedhöfe sitzen und das Gesicht in die Sonne halten, fühlt Darius sich leicht und gelöst wie seit dem gestrigen Abend nicht mehr, bevor sie zum Plakatieren aufgebrochen sind. Schweigend essen sie ihren Kebab und Darius merkt, dass ihn das Schweigen nicht aus-, sondern einschließt, dass dieses Schweigen eine Übereinstimmung zwischen ihm und Hakan ausdrückt, die er bei noch niemandem sonst kennengelernt hat.
Er erinnert sich an die Dinge, die sie gemeinsam erlebt haben, vor allem an die Vorfälle mit Emre, die sie durchstehen mussten, daran, wie glücklich sie gewesen sind, weil es ihnen noch jedes Mal gelungen ist, zusammenzuhalte n – wie Brüder.
Und das, denkt Darius, wird auch Alina nicht ändern. Vielleicht, denkt er weiter, sollte ich Hakan mal nach ihr fragen? Aber er tut es nicht.
Dann wirft Hakan seine leere Coladose beiläufig in einen Papierkorb und sagt, während Darius den letzten Happen mit einem Schluck Schorle hinunterspült: »Gut, dann wollen wir mal.« Er legt Darius einen Arm um die Schulter und zieht ihn kurz zu sich heran, bevor er sich federnd von der Bank erhebt.
Wie üblich gibt es bei Cora und Marvin in der Wohnung Milchkaffee. Wie üblich wird die kleine Versammlung von Jan-Niklas eröffnet.
Trotz des Zusammenstoßes mit den Skins stellt er die Kampagne gegen die »neonazistischen Infrastrukturen«, an der sie sich mit anderen Gruppen beteiligt haben, als Erfolg dar. Danach macht er eine Pause, fragt, ob jemand etwas sagen wolle. Alle senken den Blick und nippen an ihrem Kaffee.
Keiner möchte als Erster darauf hinweisen, dass die gestrige Aktion ohne Darius’ Eingreifen verhängnisvoll verlaufen wäre. Und dass es andererseits nicht in Ordnung ist, wenn jemand so eklatant gegen den Kodex der Gruppe verstößt und eine Schusswaffe bei sich hat und benutzt. Es sei denn, so lautet ihre Regel, es fände sich mehr als ein Gruppenmitglied, das die Aktion verteidigt.
»Also, ich will mal anfangen«, sagt Tomtom nach einer längeren Zeit, dabei bindet er seine Schuhe. Rastalocken, knapp überm Knie abgeschnittene, vielfach ausgebesserte Militärhosen und ein völlig verwaschenes T-Shir t – so steht er
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