Blutsbrüder
Nacht und die Auseinandersetzung wegen der Schüsse erinnert werden.
Darius ist erleichtert, als Hakan sich vor Beginn der Stunde kurz zu ihm stell t – obwohl er wenig später einen Stich spürt, als er den Freund und Alina dicht beieinander auf einer Fensterbank hocken sieht.
Morgensonne. Blondes Haar. Hakans Gestalt als Schattenriss. Was hat das zu bedeuten, fragt sich Darius verblüfft. Hab ich da was nicht mitgekriegt?
Unwillkürlich schaut er sich nach Jan-Niklas um, der aber wie vom Erdboden verschluckt ist.
Auch in der nächsten Pause kommt es Darius vor, als gingen ihm die Freunde aus dem Weg. Nur Alina wechselt ein paar Worte mit ihm. Und kurz vor Beginn der Stunde fragt Tomtom knapp: »Wie geht’s dir so? Nach gestern?«
Wenn er einem der anderen zufällig auf der Treppe begegnet, hat er Mühe, sich zu beherrschen. Mühe, Simon oder Jan-Niklas nicht ins Gesicht zu sagen: Ohne mich wärst du jetzt im Krankenhaus. Mit gebrochener Nase, ein paar Zähnen wenige r – falls du Glück gehabt hättest.
»Bleib ruhig«, sagt Hakan, der Darius’ Ärger und dessen Unruhe spürt. »Nachher beim Plenum«, fügt er hinzu, »nachher bei Cora und Marvin klären wir alles.«
Nach der Schule geht Hakan zu einer Fußball-AG, an der Darius nicht teilnimmt. Seit er wegen des Übergangs in die Oberstufe aufgehört hat, im Verein zu trainieren, ist er mit der eigenen Leistung unzufrieden. Trotzdem begleitet er Hakan, um nicht allein zu sein. Er lehnt das Angebot des Lehrers mitzumachen ab und setzt sich an den Rand des Trainingsplatzes.
Während die anderen sich einlaufen, ihre Übungen absolvieren und schließlich mit dem Abschlussspiel beginnen, überlässt sich Darius seinen Gedanken.
Es ist angenehm, am Rand des Schulsportplatzes im Schatten zu hocken und den Spielern zuzuschaue n – und ohne Alina in Hakans Nähe zu sein.
Darius denkt daran, wie gewissenhaft die Gruppe, die Antifa, ihre »Arbeit« (Jan-Niklas) im letzten Winter begonnen hat. Er führt sich noch einmal vor Augen, mit welcher Begeisterung sie an jeder Demonstration gegen die Aufmärsche der Neonazis teilgenommen haben. Er erinnert sich an seine Zweifel wegen des ungeheuren Eifers, den die meisten von ihnen plötzlich an den Tag gelegt haben und der ihm manchmal übertrieben vorgekommen ist. Dennoch denkt er gern an das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das er genossen hat, mit jedem Treffen meh r – als befände er sich endlich am richtigen Ort. Er erinnert sich an die Überzeugung, etwas Sinnvolles zu tun, an das Gefühl, den anderen Schülern, vor allem denen der Oberstufe, etwas vorauszuhaben, an den Hauch von Überheblichkeit, den er nicht hat vermeiden können und den er oft genug ausgekostet hat. Denkt daran, wie sie sich gegenseitig beigestanden haben, wenn es handgreiflich wurde, und dass die Konfrontationen immer glimpflich verlaufen sind, weil die Polizei in der Nähe war und die Kontrahenten oft ziemlich rüde auseinandergetrieben hat. Als nehme er Abschied, denkt er an seine Überzeugung, all das werde ewig währen und sei durch nichts und niemanden zu erschüttern.
Die Aktion am gestrigen Abend sollte der triumphale Abschluss einer Kampagne gegen die Naziläden werden. Gegen die »Infrastruktur der Faschisten « – Hakan und Jan-Niklas prägen solche Begriffe, seltener Alina oder Tomtom. Ein krönendes Finale, mit dem Plakat, das Alina nach einer Idee von Marvin entworfen und das alle in der Gruppe gleichermaßen begeistert hat.
Tja, denkt Darius, kann schiefgehen.
Kurz muss er wegen der hübsch stilisierten Hundehaufen grinsen, aber er spürt, dass es ein verlorenes Grinsen ist.
»Mach dein eigenes Ding«, hat sein Vater früher oft zu ihm gesagt, als er noch meist nüchtern war. »Kannst dich nur auf dich selber wirklich verlassen.«
Ausgerechnet mein Vater.
Darius rekelt sich unbehaglich in der Sonne. Trotzdem bleibt mir wohl nichts anderes übrig.
Dann pfeift der Trainer das Spiel ab und keine zwei Minuten später sagt Hakan: »Umziehn, dusche n – und dann lass uns gehen, okay?«
»Okay.« Darius spürt, dass die Wärme ihn schläfrig gemacht hat. »Mach schnell, ich warte solange am hinteren Ausgang auf dich.«
Während er bei einer schmalen Treppe an der Rückfront des Gebäudes langsam auf- und abgeht und sich auszumalen versucht, wie ihr erstes Treffen nach der gestrigen Aktion verlaufen wird, und während er spürt, dass ihn der Gedanke daran beunruhigt, hört er plötzlich eine Stimme, die er
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