Blutschnee
durch den Vorgarten und sprang über Verwehungen. Dafür hatte Joe nicht die Energie, er pflügte nur durchs Weiß und spürte, wie der Schnee sich zum zweiten Mal an diesem Tag in den Aufschlägen seiner Jeans und den Stiefelstulpen sammelte. Wie Rauch wirbelten die Flocken um die Verandalampe. Weihnachtsdekorationen, die die Mädchen in der Schule gebastelt hatten, waren mit Klebeband von innen an der Haustürscheibe befestigt, und Joe lächelte über Sheridans Zeichnung des Weihnachtsmanns vom Vorjahr. Von den meisten unbemerkt, hatte sie seinem roten Ärmel ein vertrautes Abzeichen verpasst, auf dem das Profil einer Pronghornantilope und die Worte »Wild – und Fischbehörde von Wyoming« prangten.
Das kompakte Haus hatte zwei Etagen mit zwei kleinen Schlafzimmern und eine separate Garage. Hinter dem Gebäude stand eine ramponierte Scheune, die auch als Stall
diente. Das Haus war vierzig Jahre alt und hatte bereits zwei früheren Jagdaufsehern und deren Familien als Wohn – und Arbeitsstätte gedient. Auf der anderen Seite der Bighorn Road erhob sich der mächtige Wolf Mountain. Und die zerklüfteten Vorberge aus Sandstein hinter dem Haus wurden vom Nordwesthang der Bighornkette überragt. Von all dem aber war im Dunkeln und im Schneetreiben nicht das Geringste zu erkennen.
Auf seinen Patrouillen begegneten Joe meist Jäger, Angler, Rancher, Wilderer, Umweltschützer und Leute, die er unter der Rubrik Frischluftfanatiker führte, doch in seinem Haus lebten vier weibliche Wesen, die allesamt blond und grünäugig waren. Weibliche Wesen mit Freude am Gespräch. Weibliche Wesen, die Befindlichkeiten zeigten. Er lächelte oft und nannte diesen Ort insgeheim ein »Haus der Gefühle«. Würde das Äußern von Emotionen sich materiell niederschlagen, dachte Joe bisweilen, so stünden in diesem Haus hunderte Fässer eines klebrigen Gefühlssirups, der mitunter aus Fenstern und Türen schwappte und aus allen Ritzen quoll. Doch seine Familie war alles für ihn. Dieser Ort war seine Zuflucht, und er hätte ihn nicht anders haben wollen.
Er schloss die Tür hinter sich und sperrte den Sturm aus, schälte sich in der winzigen Umkleide schwerfällig aus der ersten Lage Kleidung, hängte den blutigen Parka auf einen Haken und knöpfte die grüne Wollweste auf. Er schüttelte zusammengedrückten Schnee aus den Hosenbeinen und stellte seine Stiefel zum Trocknen auf eine Bank. Den nassen schwarzen Stetson legte er mit der Krempe nach oben auf eins der oberen Regalbretter.
Er seufzte, fragte sich, warum bei Marybeth noch Licht brannte, betrat das dunkle Wohnzimmer, stieß mit dem Schienbein gegen das aufgeklappte Schlafsofa und stürzte
über seine schlafende Schwiegermutter. Sie schlug erwachend um sich, und Joe rappelte sich hastig auf.
»Was treibst du denn da, Joe?«, fragte sie anklagend.
Im ersten Stock ging ein weiteres Licht an. Joe hoffte, Marybeth habe den Lärm gehört.
»Ich wollte kein Licht machen«, erwiderte er verlegen und verkniff sich den Zusatz: Ich habe vergessen, dass du zu Besuch sein würdest.
Als Joe Stunden zuvor vom Büro des Sheriffs aus zu Hause angerufen hatte, hatte Marybeth ihm gesagt, ihre Mutter, Missy Vankueren, bleibe womöglich über Nacht. Offenbar hatte Missy nach Jackson Hole fliegen wollen, um mit ihrem dritten Mann – einem reichen Immobilienbaron aus Arizona mit vielen Verbindungen in die Politik – Ski laufen zu gehen, doch das Wetter hatte das Flugzeug zur Landung in Billings gezwungen. Also hatte Missy ein Auto gemietet, um die zwei Stunden nach Saddlestring zu fahren, und war kurz vor Ausbruch des Sturms angekommen. Mr. Vankueren wollte sich erst einige Tage später nach wichtigen Besprechungen in Phoenix mit ihr treffen. Und nun hatte Joe Pickett – der Mann, den ihre Lieblingstochter trotz ihrer unglaublichen Fähigkeiten und strahlenden Aussichten erwählt hatte – sie halbnackt geweckt, indem er in ihr Bett gestürzt war.
»Hallo, Missy«, ächzte Joe. »Schön, dich zu sehen.« Missy riss sich die Decken bis ans Kinn hoch und musterte ihn. Ohne die fachkundig aufgetragene Maske aus Schminke, die ihr Gesicht normalerweise bedeckte, waren ihr ihre zweiundsechzig Jahre sehr wohl anzusehen. Joe wusste, dass sie es hasste, in nicht perfekt hergerichtetem Zustand ertappt zu werden.
Marybeth eilte die Treppe herunter und band sich dabei den Bademantel zu. Sofort erkannte sie, wie die Dinge zwischen
ihrer Mutter und ihrem Mann standen, und rang sich ein Lächeln ab. Joe
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