Blutschnee
hätte ihr liebend gern »Hilf mir, rette mich!« zugeflüstert, wagte es aber nicht, da er fürchtete, Missy könnte es bemerken. In dem kleinen Zimmer, das zur Straße wies, stand nicht nur das aufgeklappte Schlafsofa: Auch der Weihnachtsbaum erhob sich schwarz und schweigend in der Ecke. Auf dem Fußboden gab es fast keinen Platz, und Joe musste sich wie ein Krebs seitwärtsschieben, um durchs Zimmer zu kommen.
»Tut mir leid, Mom«, sagte Marybeth und stopfte die Ecken des verrutschten Lakens wieder unter die Matratze. »Joe hatte einen sehr schlimmen Tag.«
»Und ich habe eine schlechte Nacht«, erwiderte Missy und wandte den Blick von Joe ab. »Eigentlich sollte ich in unserer Eigentumswohnung in Jackson Hole sein …«
»Und nun liegst du auf unserem miesen Schlafsofa in unserem lausigen Wohnzimmer«, beendete Joe ihren Satz ungerührt und ging dabei Richtung Treppe. Marybeth warf ihm über die Schulter einen Blick zu, während sie sich weiter am Laken ihrer Mutter zu schaffen machte. Er hörte, wie sie Missy beruhigte, ihr sagte, es schneie noch immer, sich erkundigte, ob ihr warm genug sei. Dann achtete er nicht mehr auf das Gespräch.
Missy Vankueren war diejenige, die Joe gegenwärtig am allerwenigsten in seinem Haus sehen wollte. Der Tag war ein Alptraum gewesen. Auch das noch, dachte er, als er nun langsam die Treppe hochstieg.
Marybeth wirkte müde und erschöpft, doch sie hatte ihm wortlos und mit weit geöffneten Augen gelauscht. Als Joe berichtete, wie er den Toten, der sich unvermittelt als Sterbender
erwies, gefunden hatte, schlug sie die Hände vor den Mund und zuckte zusammen.
»Wirst du damit klarkommen?«, flüsterte sie, als er mit seiner Geschichte fertig war.
»Ja«, antwortete Joe, war sich aber nicht sicher.
Marybeth umarmte ihn und musterte ihn dann. »Du solltest duschen.« Er nickte nur.
Unter der Dusche wollte er Blut im Ausguss verschwinden sehen, um sich wieder richtig sauber zu fühlen. Doch Lamars Blut war auf seiner Jacke und den übrigen Sachen gewesen und nicht bis zu seiner Haut vorgedrungen.
Joe trocknete sich ab und glitt neben Marybeth ins Bett. Ihre Nachttischlampe brannte noch, und er fragte, weshalb.
»Auch für die Mädchen und mich war es ein schlechter Tag«, sagte sie und drehte sich zu ihm um. »Jeannie Keeley ist wieder in der Stadt.«
Joe fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und rieb sich die Augen. Jetzt verstand er, warum Marybeth so angegriffen und müde aussah. Er hatte ursprünglich gedacht, sie habe sich seinetwegen Sorgen gemacht – oder wegen des unerwarteten Besuchs ihrer Mutter. Daran also liegt es, erkannte er nun. Und daran, was diese Nachricht bedeutet.
Marybeth berichtete Joe, was die Mädchen nach der Schule beobachtet hatten: die Karawane von Fahrzeugen und vor allem den letzten Wagen, der angehalten hatte. Und wie April die Frau, die sie anstarrte, »die Mom, die weggegangen ist«, genannt hatte.
»Joe – warum könnte Jeannie Keeley zurückgekehrt sein?«
Er schüttelte ratlos den Kopf, zu erschöpft, um klar denken zu können.
Wellen der Erschöpfung fluteten über ihn hinweg. Er stöhnte bei der Aussicht auf weitere Verzögerungen und die Gefahr, um April kämpfen zu müssen.
Tatsächlich war Aprils Lage unsicher. Obwohl sie seit vier Jahren bei ihnen lebte und ebenso ihre Tochter war wie Sheridan und Lucy, war sie von Rechts wegen kein Mitglied ihrer Familie.
Aprils leibliche Mutter, Jeannie Keeley, hatte zwei Dinge in der Bankfiliale von Saddlestring zurückgelassen, als sie die Stadt nach der Ermordung ihres Mannes Ote verließ: ihre Hausschlüssel und April. Marybeth hatte davon erfahren und sofort angeboten, das Mädchen zu sich zu nehmen, bis die Angelegenheit geklärt wäre.
Schließlich hatten sie beim Gericht die Adoption beantragt, und Richter Hardy Pennock hatte ein Verfahren eingeleitet, um Jeannie Keeleys Elternrechte aufzuheben. Doch dann war er mit einem Hirntumor ins Krankenhaus gekommen, und in seiner Abwesenheit war das Verfahren liegengeblieben. Schließlich war die Sache bei einem anderen Richter gelandet – aber die ursprüngliche Akte war verloren. Eine weitere Verzögerung war eingetreten, als diesen Richter ein Brief von Jeannie Keeley erreicht hatte, in dem sie ankündigte, sie werde zurückkehren und ihre Tochter holen. Das war im Sommer gewesen, also vor einem halben Jahr, und seither war Jeannie Keeley nicht aufgetaucht. Einer Bestimmung im Recht von Wyoming zufolge konnten Elternrechte nicht
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