Blutschuld
hätte, ließe ihr genug Raum dafür.
Vorausgesetzt, der Mann, der sein Möglichstes getan hatte, sich ihr Herz zu krallen, ließe sie gehen.
»Prima.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf das grüne Haus jenseits des Strands. »Dann lasst uns gleich loslegen. Je früher wir mit dem ganzen Scheiß durch sind, desto früher können wir zurück auf die Straße und ein paar Leuten in den Arsch treten, richtig?«
»Richtig«, bestätigte Jessie und nahm Silas’ Hand. Sie bewegen sich wie eine Person, dachte Naomi, während sie beobachtete, wie die beiden zum Haus hinübergingen. Silas verkürzte seine Schrittlänge, damit Jessie gleichauf blieb. Als sie etwas sagte, neigte er den Kopf zu ihr herunter. Sein Lachen war Lebensfreude pur.
Matilda, die immer noch neben Naomi stand, seufzte. »Liebe, was?«
»Glaub schon.«
Die alte Frau lächelte. Es geriet etwas schief, dieses Lächeln, reuevoll. »Tja.«
Naomi blickte sie an. Kniff die Augen zusammen, als sie Matildas Augen wissend aufleuchten sah. Schon wieder dieser scheißwissende Blick! »Was denn?«
»Ich denke gerade darüber nach, ob ich einen der Schutzzauber aufheben soll, mit dem ich diese Zuflucht belegt habe«, sagte sie im Plauderton, als würde sie über das Wetter reden.
Warum zum Teufel sollte Naomi sich dafür interessieren? Kopfschüttelnd wandte sie sich in Richtung Pfad. Sie hatte keine Zeit und vor allem keine Geduld für diesen Mist.
»Nicht die Zauber natürlich, die uns vor Entdeckung durch fremde Augen schützen«, fuhr Matilda fort und folgte ihr. »Nur den, der dafür sorgt, dass hier in unserer Bucht keine Unaufrichtigkeit unentdeckt ausgesprochen werden kann.«
Keine Unaufrichtigkeit.
Er wollte es, ich wollte es. War nett mit ihm im Bett. Aber das war’s dann auch schon.
Wie angewurzelt blieb Naomi stehen. Es geschah so abrupt, so unvorhersehbar, dass sie halb erwartete, die alte Hexe müsste in sie hineinlaufen. Die Alte hatte Naomi offenbar nicht alles erzählt, was zu erzählen wirklich wichtig gewesen wäre. Sie wirbelteherum, hatte wieder die Fäuste geballt, und schnauzte mordlustig: »Halten Sie sich verflucht noch mal aus meinem Leben raus!«
Die alte Frau lächelte traurig. »Das kann ich nicht, mein Kind. Du befindest dich in meinem Zuhause. Du bist ein Teil von all dem …«, ihre ausholende Geste schloss die üppige Vegetation, die Bucht, die ganz Zuflucht ein, »und aus Gründen, die ich hoffe, eines Tages zu erfahren, bewundert dich Silas aufrichtig.«
Wieder kamen Naomi die Tränen, und sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Daher musste sie erst schwer schlucken, ehe sie sagen konnte: »Phin Clarke gehört in die Oberstadt.« Jedes Wort sickerte aus einem Riss mitten in ihrem Herz. Der Riss war da; ihn sich selbst aber einzugestehen wagte sie nicht. »Dort oben ist sein Leben. Dort ist seine Mutter, die um ihre Ehefrau trauert; dort sind seine Freunde. Dort oben ist sein Geld. Er kann sein Resort wieder aufbauen, sein Leben neu beginnen und in Frieden um seine Mutter trauern. Das ist alles, was zählt.«
Matilda nickte. »Ich verstehe. Jedes Wort, auch die, die zwischen den Zeilen stehen, die ungesagt bleiben. Ich respektiere deinen Wunsch, Naomi West, und dringe auch nicht weiter in dich. Eines aber will ich dir noch mit auf den Weg geben.«
»Könnte ich Sie denn irgendwie davon abhalten?«
Matilda lächelte sanft. »Die Zeit wird die Wunde nicht heilen, aber den Schmerz lindern. Ich werde versuchen, deinen Kopf mit anderen Dingen zu beschäftigen.«
Die Tränen drohten Naomi zu überwältigen. Sie deutete ein Nicken an und murmelte: »Danke.«
Matilda ging an ihr vorbei, legte ihr aber im Vorbeigehen kurz die Hand aufs Herz und sagte: »Du solltest mit dir ins Reine kommen. Komm wieder rein zu uns, wenn du so weit bist!«
Die Hexe ging weiter. Naomi blieb zurück und senkte den Blick, der auf den dunklen obsidianartigen Pflasterstein gleich neben ihrem Stiefel fiel. Ein Symbol war in den Stein gemeißelt; Naomi vermutete ein magisches Zeichen für oder gegen irgendetwas.Aber selbst wenn sie sich mit magischen Symbolen ausgekannt hätte, hätte sie es nicht zu deuten gewusst. Ihre Augen schwammen in Tränen, und Naomi sah alles verschwommen.
Sie war erleichtert.
Phin würde über sie hinwegkommen. Bald schon fände er ein hübsches Ding, das er nach Strich und Faden verwöhnen könnte, eines dieser bewundernswert elfengleichen Geschöpfe mit zarten Händchen und makelloser Haut. Die auf Ledersitze
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