Blutschuld
und Champagner standen und deren samtweiche Haut nicht von einer Straßenkarte aus Narben überzogen war.
Vielleicht kehrte er ja auch zu Andy zurück.
Über Naomis Gesicht huschte ein Lächeln. Sie wusste, wie traurig dieses Lächeln war. Mit dem Arm wischte sie sich über das Gesicht, fuhr sich über Augen, Mund und Wangen. Sie sorgte dafür, dass ihr Gesichtsausdruck statt Trauer wieder die gewohnte Entschlossenheit zeigte.
»Also gut«, verkündete sie der Luft vor ihr, während sie sich in Richtung Haus aufmachte, »ein paar Wochen. Und dann, bereit oder nicht, mach ich hier den Abflug, und dann zeig ich’s ihnen.«
KAPITEL 23
Hoch droben tobte ein Sturm; Wolken jagten über den Himmel und ballten sich zu Wetterwänden in dräuendem Schwarz und Grau. Blitze zuckten tief drinnen in den Wolkenbergen: gleißend hell die einen, die anderen schauriges Purpurrot, das sich in nachtschwarze Schleier hüllte.
Unwetterfronten wie diese brachten keinen Regen. Es war die besondere Art, in der sich in New Seattle der Winter ankündigte. So kalt, dass man sich den Arsch abfror, und jederzeit bereit, mit Getöse, mit Blitz und Donnerschlag, auf die Stadt herniederzufahren. Aber das Unwetter allein verursachte nicht die gesamte elektrische Ladung, die knisternd in der Luft lag.
Naomi selbst war bis zum Bersten geladen.
Nach siebenundzwanzig Tagen beschissenen Herumsitzens war Naomi wieder im Einsatz. Endlich eine Mission.
Der letzte Monat war hart für die ehemalige Hexenjägerin gewesen, für sie alle vier. Die versteckt liegende Bucht eignete sich hervorragend, um sich die Wunden zu lecken. Alles, was Naomi an Prellungen, Schürfwunden und schwereren Verwundungen abbekommen hatte, hatte heilen können. Aber ein ganzer Monat, in dem sie ständig unter Beobachtung stand und endlos ihre neu erworbenen magischen Fähigkeiten trainierte, ließen Naomi ihre plötzliche Abneigung gegen Mord und Totschlag noch einmal gründlich überdenken.
Jessie und Silas waren krampfhaft bemüht, Tretminen und Fettnäpfchen tunlichst zu umgehen. Ein echter Eiertanz, also eigentlich Fehlanzeige. Die alte Hexe bemühte sich um nichts, schon gar nicht um Einvernehmen. Sie war und blieb, was sie vonAnfang an gewesen war: eine Nervensäge. Ein Wolf hätte sich in einer Gruppe Hütehunde besser aufgehoben gefühlt als Naomi in ihrem neuen sogenannten Team.
Okay, zugegeben – wenn auch nur widerstrebend: Das stimmte nur als Momentaufnahme; an sich wurde das Miteinander ganz allmählich schon besser. Sicher lag das daran, dass Naomi ganz allmählich ihre neue Rolle als Heilerin fand. Ein ironisches Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. Heilerin, so ’n Bockmist!
Handlungsspielraum gab es kaum. Und genau das ließ die Vier einander immer wieder an die Kehlen gehen. Es war schwierig zu handeln, wenn es in der Stadt vor Missionaren und Kirchenmännern nur so wimmelte. Wenn das Kopfgeld für Naomi so neu und attraktiv war, dass jeder Kopfgeldjäger, der glaubte, sich und der Welt etwas beweisen zu müssen, nach ihr Ausschau hielt.
Es war Silas, der nach Ablauf dieses langen Monats des Abwartens und Stillsitzens Naomi – und sich und die beiden anderen Frauen – vor einem weiteren Schwall bitterer sarkastischer Überlegungen rettete, dieses Mal zur Eignung der Beschaffenheit von Stricknadeln als Mordwaffen. »Am besten, du besorgst uns etwas zu tun«, hatte er gesagt. »Es wird langsam Zeit, dass wir wieder loslegen. Oder bist du anderer Meinung?«
Scheiße, nein!
Donner schluckte, was die geschäftige Stadt an Geräuschkulisse produzierte, verschluckte das Grundrauschen aus Verkehrslärm, lärmenden Menschen und unablässig sirrender Elektrizität. Naomi stand im Schatten einer Gasse und wartete auf den rechten Moment für ihren nächsten Standortwechsel. Da flackerten die wenigen Lichter, die in dem Mietshaus gegenüber brannten.
Das Licht im gesamten Block flackerte.
Na, war das nicht allerliebst! Die Oberstadt war geradezu gepflastert mit Generatoren und Umspannern. Aber wenn hier die Lichter ausgingen, stünde schlagartig alles still. Stille vielleicht sogar gleich für ein paar Tage.
Einbruch und widerrechtliches Betreten in absoluter Stille war eine ganz dämliche Idee.
Halt dich ja schön bedeckt! , hatte Jessie Naomi eingeschärft. Sich bedeckt halten – genau das tat Naomi seit Tagen, und nichts anderes. Es war nicht ihre Schuld, dass ihre und Jessies Vorstellung davon, sich bedeckt zu halten, meilenweit
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