Blutschuld
Hände und warf einen kurzen Blick zum Spiegel über dem Kaminsims. Wortlos zeigte sie dem geschniegelten Spiegelbild den Mittelfinger. Dann verließ sie die Suite.
Naomi schaffte es bis hinunter in den Park im Innenhof, ehe ihr Nervenkostüm erste Risse bekam. Unsicherheit ballte sich als schwer zu ignorierender Druck in ihrer Brust.
Was zum Teufel hatte sie sich nur dabei gedacht?
Das hier war nicht ihre Welt. Phin war nicht einmal ihr Typ. Aber da war sie nun, Naomi West, Missionarin, auf dem Weg ins Nachtleben der Oberstadt. Als würde sie wirklich und wahrhaftig dazugehören, eine von den Reichen und Schönen der obersten Ebenen. Sie sah sogar so aus, als würde sie dazugehören.
Vor der Tür zur Lobby zögerte Naomi.
Sie gehörte nicht hierher. Punkt. Nicht hierher, nicht zu Phin,nicht in die Oberstadt. Alles war nur gespielt. So weit, so gut. Sie brauchte einen Weg heraus aus dem Schönheitstempel, sie brauchte ihre Waffe. Sie brauchte einen Übergabeort für die Blutproben. Sie brauchte Kontakt zu Miles.
Aber sie wollte diesen Lackaffen Clarke zu Stellungen verführen, bei denen er sich Arme und Beine verknotete. Naomi Ishikawa wollte ihn häppchenweise vernaschen. Dann nämlich könnte Naomi West zu Recht behaupten, wenn sie diesen verschissenen Goldkäfig von Knast mit seinen beschränkten, in Watte gepackten Insassen verließe, sie habe dort wenigstens ein angenehmes, richtig interessantes Erlebnis gehabt, das nichts mit Kugelhagel und Blutvergießen zu tun hatte.
Sie knirschte mit den Zähnen und öffnete einen Flügel der Doppeltür. Gerade einmal zwei Schritte in die Lobby hinein genügten, da prickelte ihre Haut bereits alarmiert. Naomi fühlte sich beobachtet. Sie riss den Blick von der künstlichen Quelle los, deren munteres Sprudeln jeden Eintretenden dazu verführte, dorthin zu schauen, und sah sich den forschenden Blicken gleich dreier Augenpaare ausgesetzt.
Phin zwinkerte ihr zu. Eine Herausforderung.
Ein weiteres Spielchen? Naomi reckte das Kinn hoch, ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Phalanx der sie Erwartenden zu. Ihre Stilettoabsätze klackten laut über den Marmorboden. »Phin, Mrs. Clarke«, begrüßte sie die zwei, die sie mit Namen kannte: Gemma und ihren Sohn.
»Guten Abend, meine Liebe«, grüßte Gemma zurück und straffte die Schultern. Neben Gemma, gleich neben dem großen Touchscreen der Rezeption, stand die Dritte im Bunde, eine Frau mit goldblondem Haar und bemerkenswerter Ausstrahlung, und lächelte Naomi an. Die Gelassenheit in Person.
Ganz offen taxierte sie Naomi.
Sofort erkannte Naomi in ihr die hochgewachsene Frau, deren Silhouette sie gestern Nacht auf der Schwelle zur Lobby ausgemacht hatte. Aber Naomi wettete ihren Hintern darauf, dass diese Frau keine Empfangsdame war.
»Naomi«, Phin legte Naomi die Hand in den Rücken und deute mit einer raschen, höflichen Geste auf Gemma, »Meine Mutter kennen Sie bereits, nicht wahr?«
»Sicher«, erwiderte Naomi, wollte weitersprechen, aber zögerte und runzelte die Stirn. Gemmas Lächeln war breiter geworden.
»Dann möchte ich Sie jetzt meiner Mutter vorstellen, Lillian Clarke. Mutter, Miss Naomi Ishikawa.«
Naomis Augen verengten sich, wurden noch schmaler. Ihr Blick wanderte von Lillians strengen Gesichtszügen zu Gemmas schokoladenbrauen Augen, die vor Fröhlichkeit überzulaufen drohten. Dann zu Phin, der Naomi mit demselben leichten, gelassenen Lächeln beobachtete, das auch Lillians Lippen umspielte. »Angeheiratet, oder nicht?«
Phin schüttelte den Kopf. »Nein.«
Naomis Finger zuckten. »Schlitzohr«, murmelte sie und tätschelte seine Wange. In seinen Augen blitzte es auf – Überraschung oder etwas anderes, Naomi vermochte es nicht zu sagen –, und sie brachte sich mit ein paar raschen Schritten in Richtung Rezeption aus seiner Reichweite. Sie streckte der Blonden die Hand entgegen. »Nett, Sie kennenzulernen, Mrs. Clarke!«
Nett, die Frau kennenzulernen, die in der letzten Nacht Abigail Montgomery die Wangen mit angedeuteten Küssen behaucht hatte. Nett, ihr in die wissenden, grünen, mit Gold durchsetzten Augen zu schauen und sie lächeln zu sehen, als quäle sie nicht eine einzige Sorge auf der ganzen Welt.
Nett, das zu tun, während man selbst darüber nachdachte, wie viel diese zweite Mutter wohl wusste. Über eine gewisse Naomi Ishikawa. Über eine Leiche, die diese Naomi Ishikawa notdürftig in einem herrlich auf Hochglanz polierten Schlafzimmerschrank mit Lacktüren
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