Blutschwestern
ihr ausstreckte. Sie konnte nicht anders, als ihn an sich zu drücken. Wärme und ein Gefühl von unendlicher Hoffnung
überwältigten sie. Ilana ging erneut hinüber zur Fensteröffnung. Sie suchte noch einmal in den Bäumen, und dann sah sie ihn,
und er sah so schön aus wie immer.
»Dawon«, flüsterte sie ihm zu.
Er sah zu ihr hinauf und lächelte, bevor er sich in den dunklen Nachthimmel erhob und mit ihm verschmolz.
Ilana ging zurück zum Bett und wickelte den Kleinen in eine |263| Decke. Dawon hatte ihr sein Kind gebracht, und sie wusste noch nicht einmal, ob Nona noch lebte. Er hatte den Menschen die
Hoffnung zurückgebracht, die sie schon vergessen glaubten. Nun konnte Ilana ihrem Volk sagen, dass die Hoffnung nach Engil
zurückgekehrt war, sie würde … Ilana hielt inne. Dawon war heimlich gekommen – er hatte gewollt, dass sie den Kleinen fand.
Erneut blickte sie in die großen Augen des Säuglings, der sie ansah und nichts von dem ahnte, was ihm bestimmt war. Er sah
aus wie jedes Kind … wusste nichts von seiner Bestimmung.
»Ich werde dich beschützen, Prinz von Engil«, sprach Ilana leise zu ihm. »Ich werde nicht zulassen, dass sie an dir herumzerren,
wie an deinen Eltern.«
Liandra und die Priesterinnen würden den Knaben an sich reißen und ihn im Tempel Salas einsperren, nur um ihn als Waffe gegen
Muruk auszubilden, und die Engilianer würden ihn anstarren, wie einen Gott, ehrfurchtsvoll, aber von weitem, ohne ihn wirklich
zu kennen. Wenn die Priester Muruks sich irgendwo verkrochen hatten und warteten, würden sie versuchen, ihn zu töten, solange
er noch jung und hilflos war. Der beste Schutz für den Knaben war, wenn niemand von ihm wusste! Er sollte ein Leben haben
und in Frieden aufwachsen können, genau wie ihr eigenes Kind.
In diesem Moment beschloss Ilana, dass nur Tojar die Wahrheit erfahren sollte, denn er würde es verstehen.
Sie wiegte das Kind in den Armen und sprach: »Degan, wir werden dich Degan nennen, und niemand wird dir Leid zufügen.« Bei
Ilanas Worten schloss der Kleine die Augen und umfasste ihre Hand.
Danke, Dawon, danke, Nona! Möge Sala euch beschützen, wo immer ihr auch seid. Euer Sohn ist sicher in Engil.
Ilana wischte sich eine Träne aus den Augen und stand langsam auf.
Nun konnten friedliche Zeiten anbrechen.
|267|
Zwanzig Jahresumläufe später
Sie wand sich unter Schmerzen auf dem kühlen Steinboden. Unerträgliche Wellen wurden von Stichen abgelöst, die ihr Fleisch
wie eine einzige Wunde brennen ließen. Kalter Schweiß lief ihr über Stirn und Rücken, das lange Haar klebte ihr im Gesicht,
und sie begann zu zittern und die Fäuste zu ballen. Sie durfte nicht schreien! Das Wesen
Mutter
erlaubte es nicht. Wenn sie schrie, würde das nur weitere Schmerzen zur Folge haben, denn
Mutter
würde sie schlagen. Sie bemerkte den langen Stock mit den schwarzen Riemen, den sie oft genug zu spüren bekommen hatte.
Mutter
hielt ihn in der Hand, und sie wusste, dass sie ihn gebrauchen würde, wenn es nötig wäre.
Mutter
verlangte von ihr, nicht zu schreien, wenn die Schmerzen kamen.
Mit zusammengebissenen Zähnen kroch sie vorwärts, ihre Finger krallten sich in die gestampfte Erde, und sie blickte auf
Mutters
Füße, die nun, da sie auf sie zukroch, ein paar Schritte zurückwichen.
»Xiria!«, hörte sie
Mutters
Stimme mahnend und laut vor sich.
Sie wusste, dass dies ihr Name war. Wenn
Mutter
diesen Laut aussprach, wusste sie, dass sie Aufmerksamkeit von ihr verlangte.
Xiria sah auf und wartete.
Mutter
wies mit dem Finger auf die Ecke, in der etwas Stroh und eine zerschlissene Puppe lagen. Die Puppe sah dem Wesen
Mutter
ähnlich, und sie hatte sie ihr gegeben, als das erste Mal die Schmerzen eingesetzt hatten. Als Xiria die Puppe jedoch nur
beschnuppert und dann zur Seite gelegt hatte, war sie gegangen und hatte ihr nie wieder etwas gebracht, außer Wasser und Früchte.
Xiria hatte die Puppe erneut betrachtet, als
Mutter
fort gewesen war. Sie verstand, dass sie etwas falsch |268| gemacht hatte, indem sie die Puppe nicht beachtete. Erneut hatte sie daran geschnuppert und dann versucht, sie zu essen, doch
sie schmeckte nicht. Trotzdem hatte sie die Puppe jedes Mal in die Hand genommen, wenn
Mutter
zu ihr kam, denn sie hoffte, damit den Schlägen zu entgehen, wenn
Mutter
sah, dass Xiria tat, was sie verlangte. Doch
Mutter
war nicht zufrieden gewesen, und so hatte Xiria die Puppe einfach im Stroh liegen
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