Blutschwestern
ihrem Kopf. Ihre beider Namenslaute |323| hatte sie erkannt, auch dass der Laut Greif etwas darstellte, was sie beide verband. Es war nicht schwer für sie, zu erkennen,
dass es mit ihrer Ähnlichkeit und den Schwingen zu tun hatte. Dann dachte sie über die letzten beiden Worte nach. Dawons Körper
ähnelte dem Degans, und ihr Körper ähnelte dem von
Mutter
. Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. Sie hatte verstanden, und sie hatte jemanden gefunden, der ihr helfen konnte, mehr zu
verstehen.
»Xiria hören mehr von Greifmann Dawon«, sagte sie und tippte ihm dabei auf die Brust.
|324| Muruks Schatten
Lin erhob sich mit schwindelndem Kopf und trat von der Feuerschale zurück, in die sie gesehen hatte. Ihr Gesicht brannte von
der Hitze, und eine Locke ihres Haares war angesengt, so nahe war sie dem Feuer gekommen; doch Sala schwieg. Obwohl sie nun
die Hohepriesterin Salas war, weigerte sich die Göttin, mit Lin zu sprechen. Besorgt traten die jungen Priesterinnen zu ihr.
Die Blicke der Mädchen verrieten ihre Angst und ihre Hoffnungslosigkeit. »Ho hepriesterin , hat die Göttin heute zu dir gesprochen?«
Lin schüttelte nur kurz den Kopf, sie vertröstete die Priesterinnen nun schon seit fast vier Tagen. Mittlerweile begann sie
sich zu fragen, ob es wirklich Salas Wunsch gewesen war, dass sie Liandras Nachfolge angetreten hatte. Degan zog sich immer
mehr zurück und verweigerte sich den Menschen, die ihn liebten. Er sprach kaum noch mit Tojar oder Ilana und am wenigsten
mit ihr. Mittlerweile fürchteten sich die Dienerinnen, die ihn früher begehrt hatten, vor ihm und weigerten sich, alleine
seine Räume zu betreten, um ihm seine Mahlzeiten zu bringen. Degan war es gleichgültig, er verließ kaum noch seine Räume.
»Du musst es weiter versuchen, Lin«, versuchte sie eines der jungen Mädchen zu trösten.
Lin nickte bekümmert. Sie verabschiedete sich mit einem leisen
Belis nani
von den Mädchen und hatte es dann eilig, den Tempel Salas zu verlassen. Sie konnte die enttäuschten Blicke der Priesterinnen
kaum noch ertragen. Bisher hatte sie in ihrem Amt als Hohepriesterin versagt, dieser Umstand lastete schwer auf ihr. Lin eilte
die Stufen des Tempels hinunter und atmete tief durch. Die |325| Sonne sandte ihre warmen Strahlen auf ihr Gesicht, und das Schwindelgefühl verging allmählich. Vier Tage lang hatte sie fast
ohne Unterbrechung in die Flammen der Offenbarung gestarrt. Ihre Augen brannten, ihre Kehle war trocken, doch die Göttin schwieg
noch immer.
» Belis nani
, Lin. Du siehst müde aus. Hat Sala dir düstere Verkündungen geschickt?«
Lin zuckte zusammen, sie war in ihre Gedanken vertieft gewesen und hatte Braam nicht bemerkt, der sich ihr von der Seite genähert
hatte. Nun sah er sie an, zwar freundlich, doch Lin mahnte sich zur Vorsicht. Jetzt, da sie Salas Hohepriesterin war, konnte
sie nicht mehr so arglos jedem von den Dingen erzählen, die sie bewegten. Vor allem nicht Braam! Er hasste Degan, und das
Wissen um dessen Herkunft hätte ihn sicherlich dazu veranlasst, die Engilianer gegen Degan aufzubringen. Lin schlang die Arme
um ihren Leib, denn Braams Blicke schienen sie geradezu ausziehen zu wollen. Hätte sie noch bis vor einigen Tagen leichtfertig
darüber gelacht, fühlte sie sich nun unwohl. Was würde geschehen, wenn Degan sie nicht zur Gefährtin nehmen würde? Engil sollte
von einem König und einer Königin regiert werden, und Braam hatte sich oft genug bei Tojar eingeschmeichelt, um in seine Gunst
zu gelangen.
Lin zwang sich zu einem sorglosen Lächeln. »Die Verantwortung, die mir mein neues Amt abringt, ist groß. Ich schätze, ich
muss mich einfach etwas ausruhen.«
Braam nickte scheinbar verständnisvoll, ließ sie jedoch kaum aus den Augen. »Man hört und sieht wenig von Degan in den letzten
Tagen. Sollte nicht beim Sommerwendenfest eure Verbindung bekanntgegeben werden? Warum trägt er seine Verantwortung nicht,
wie es einem zukünftigen König von Engil gebührt? Gerade jetzt, wo Liandra nicht mehr ist und du so viel Last zu tragen hast.
Er sollte dich unterstützen und an deiner Seite sein.« Braam versuchte nicht, seine Verachtung für Degan zu verbergen.
|326| »Degan ist krank … ein leichtes Fieber, nichts Ernstes«, versuchte Lin so gleichgültig wie möglich zu klingen.
»Nun«, bekundete Braam, »bestell ihm meine Grüße. Ganz Engil sorgt sich bereits, weil der Kronprinz sich in den letzten Tagen
so rar macht.
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