Blutschwestern
nachdenken müssen, um zu verstehen, dass es nicht unbedingt schöner Gefühle bedurfte, um den Körper
eines anderen zu lieben. Trotzdem blieb ihr ein Teil des Verständnisses für die Welt verschlossen, jener Teil, den ein Kind
mit der Muttermilch aufsaugt und den es stetig im Umgang mit anderen Lebewesen entwickelt; die Feinfühligkeit, zwischen Gut
und Böse zu unterscheiden. Sie wusste zwar nun in groben Zügen, was unter den Menschen als Gut und als Böse galt, doch war
es ein erlerntes Wissen, das sie gleich einer Liste in ihrem Kopf abrufen konnte. Einen Bezug zu ihren eigenen Taten und Gefühlen
vermochte Xiria nicht herzustellen. Sie hatte zwar
Mutter
und diese Waldfrau getötet, doch schließlich waren sie böse gewesen. Xiria fühlte Hass auf
Mutter
, auf die Menschen und auch auf die Waldfrauen, denn sie hatten ihr Böses getan. Im Gegenzug liebte sie Dawon, weil er gut
zu ihr war und weil er ihr ähnelte. In Xirias Verstand war ein Wesen entweder gut oder böse, und man behandelte es dementsprechend.
Gedankenverloren kaute sie auf einer Nuss, während sie Dawon beobachtete, der sich langsam erhob und in die untergehende Sonne
blickte. Sein dunkles Haar und die ebenso dunklen Schwingen glänzten, wenn die Strahlen darauf tanzten. Xiria spürte ein Kribbeln
in ihrem Bauch. Auch Dawon schien bereits den gesamten Tag ungewöhnlich aufgeregt zu sein.
|329| »Xiria liebt Dawon«, sagte sie voller Offenheit und ohne Argwohn.
Der Greif wandte sich zu ihr um und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln.
»Xiria will Dawons Körper lieben und seine Gefährtin sein.«
Dawons Gesicht bekam zuerst einen überraschten, dann einen bekümmerten Ausdruck. Er hockte sich neben sie ins Gras und strich
ihr sanft über das silberne Haar. »Dawon hat schon eine Gefährtin, schöne Greifin Xiria. Er kann nicht der Gefährte von Xiria
sein.«
Ihr Herz zog sich zusammen, die schönen Gefühle, die sie gerade noch empfunden hatte, wurden düster. »Dawon hat gesagt, Xiria
ist die einzige Greifin. Wie kann Dawon dann eine Gefährtin haben?«
»Dawons Gefährtin ist keine Greifin, sondern eine Lalu-Frau«, versuchte er ihr zu erklären.
»Lalu-Frau? Was ist eine Lalu-Frau?«, fragte sie enttäuscht und spürte, wie ein neues nagendes Gefühl in ihr anschwoll, das
ihr nicht guttat.
»Lalu-Frauen sind große Zauberinnen, Geistwesen, die nur noch wenig mit ihrem Menschenkörper verbunden sind.«
Unvermittelt rückte Xiria ein Stück von ihm ab und legte den Kopf schief. Hatte er gerade von einer Menschin gesprochen? Er
hatte sie angelogen! Er hatte ihr gesagt, dass Menschen die Greife hassten. Sie hatte die Bosheit der Menschen am eigenen
Leib erfahren, und gerade er hatte eine Menschin zur Gefährtin. Zuerst fühlte sie sich verunsichert, dann verraten. Zuletzt
überkam sie maßloser Zorn. Er hatte gelogen, er hatte sich über sie lustig gemacht!
Dawon erkannte zwar die Verwirrung, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, doch konnte er nicht verstehen, woher diese kam.
»Nona, Dawons Gefährtin, wird heute kommen. Am Ende eines jeden Mondes treffen Dawon und Nona zusammen. Xiria wird sie mögen!«
|330| Sie sprang endgültig auf und wich vor ihm zurück. »Dawon hat gelogen. Dawon ist ebenso schlecht wie die Menschen. Xiria hasst
Dawon!« Ihre Augen wurden kalt und hart.
Als Dawon auf sie zukam und beschwichtigend nach ihrer Hand greifen wollte, spannte sie ihre Schwinge und fuhr ihm mit der
Klaue über die Brust. Ein tiefer Schnitt klaffte auseinander, während er rückwärts taumelte. In Dawons Augen standen Unverständnis
und Kummer, selbst noch als sie auf ihn losstürzte und ihn zu packen versuchte. Dawon tat das Einzige, wozu er fähig war:
Er erhob sich mit kräftigen Flügelschlägen in den Himmel, geriet ins Trudeln, fing sich jedoch und stob davon.
Xiria wollte ihm folgen, doch er war trotz seiner Verwundung schneller, flog auf die untergehende Sonne zu und verschmolz
mit ihr – gerade auf die Art, wie er vor einem Mond aufgetaucht war. Xiria gab schließlich auf, er war kräftiger als sie.
Ihr Zorn verging jedoch nicht, als sie auf der Wiese landete. Hasserfüllt starrte sie auf die Reste der Nussschalen, die noch
immer da lagen, wo Dawon sie zurückgelassen hatte. Sie hatte geglaubt, er sei gut, doch sie hatte sich getäuscht. Erneut überkam
sie das Gefühl von Einsamkeit. Warum hatte er sie abgelehnt? Xiria sah sich um, der See erschien ihr mit einem Male leer
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