Blutschwestern
wurdest geboren, um den Menschen das
Licht Salas zu bringen.«
Er fuhr herum und funkelte sie abwehrend an. »Wenn ich dies aber gar nicht will! Wenn ich mich danach sehne, endlich mit jenen
zusammen zu sein, die mir ähneln! Du solltest niemals vergessen, dass auch Muruks dunkles Gift in mir ist, Lin. Du bist so
arglos, dass du mich wütend machst. Glaubst du noch immer, ich könnte dich zur Gefährtin nehmen und der König von Engil werden?
Hat dir unsere Begegnung im Tempel nicht gereicht?«
Lin zuckte vor ihm zurück. Wie hatte er sich nur derart verändern können? Was hatte diese Greifin mit ihm gemacht, dass er
nun alles an ihm abzulehnen schien, was menschlich und gut war? |319| Trotzdem war sie nicht bereit, ihn oder die Hoffnung an seine wahre Bestimmung aufzugeben. Als sie versöhnlich seine Hand
nahm, schien er zu erstarren.
»Degan, komm mit mir in Salas Tempel und lass uns versuchen, deinem Herz Frieden zu schenken. Lass nicht das Gift in dir die
Herrschaft gewinnen. Du mochtest Liandra nicht, doch nun werde ich die Hohepriesterin Salas sein. Ich schwöre bei Sala, dass
ich dir helfen werde.«
Degan schüttelte ihre Hand ab wie ein lästiges Insekt. Er sah Lin an wie ein Fremder, als wären sie nicht ihr gesamtes Leben
zusammen aufgewachsen. »Gib mich endlich auf, Lin! Ich bin nicht der, den du in mir zu sehen glaubst.« Mit diesen Worten ließ
er sie stehen und verschwand in der Menge der Menschen, die sich vom Tempelvorplatz entfernte. Lin seufzte auf. Sie war überrascht
gewesen, als ihre Mutter ihr gesagt hatte, dass sie Liandras Nachfolge als Hohepriesterin antreten sollte. Ilana meinte, dass
in ihr so viel Licht und Güte sei, dass Sala sich keine bessere Hohepriesterin würde wünschen können. Ihre Mutter hatte gemeinsam
mit den anderen Priesterinnen die Waldfrauen befragt; die Antworten waren eindeutig gewesen. Lin sollte Salas Hohepriesterin
sein. Sie drängte ihre Tränen zurück und beobachtete, wie die Priesterinnen Liandras Asche aufsammelten und in einen Tonkrug
füllten. Sala hatte einst vor Tausenden von Sommerwenden die Wälder von Mengal in die schwarze Wüste Melasan verwandelt. Asche
war ihr Zeichen, so wie das Zeichen des dunklen Gottes das Blut gewesen war. Trotzdem war Asche kein gutes Zeichen für eine
Göttin, die Licht und Frieden bringen sollte, ebenso wie Degans Verhalten nicht zu einem Auserwählten Salas passte.
Lin krampfte die Hände zu Fäusten. Das konnte nur bedeuten, dass allem Frieden zum Trotz die Prophezeiung Salas Recht behalten
sollte. Es war noch nicht vorbei. Muruk war zwar nicht unter ihnen, doch er harrte in den Schatten seiner Rückkehr. Er lauerte
auf die richtige Zeit, um wieder zu erstarken. Lin spürte tief in |320| ihrem Herzen, dass jene Zeit gekommen war. Und nun war sie die Hohepriesterin Salas. Wie sollte sie jemals die Kraft aufbringen,
den Frieden zu halten, wenn Degan sich von ihr und allem, was er sein sollte, abgewandt hatte?
Xiria hatte die hellen gleißenden Berge mehrmals überflogen, hatte immer wieder ihre Runden gedreht, doch kein lebendes Wesen
gefunden. Sie fühlte sich so furchtbar hilflos. Sollte sie nun einfach weiter umherirren, ohne zu wissen, was sie tat? Die
Berge schienen ihr nicht einladend, und der Wunsch nach einem Wesen, das Laute von sich gab, die sie verstand, trieb sie immer
weiter, ließ sie das Gebirge überqueren, bis sich ihr ein neues Bild bot. Eine grüne, flache Landschaft ohne Pflanzen, angenehme
Luft und die warmen Strahlen der Kugel am Himmel. Alles war überschaubar, daher gab es keinen Grund zu landen. Aus der Luft
würde sie viel mehr erkennen. Endlos schien das Land sich unter ihr zu erstrecken; doch auch hier suchte Xiria vergeblich
nach einem Wesen, das ihr glich.
Erst als es begann, dunkel zu werden, näherte sie sich einer Ansammlung von Gewächsen, jenen ähnlich, die sie zuvor in den
Wäldern gesehen hatte. Einladend umgaben sie die spiegelnde glatte Oberfläche eines großen Wassers. Xiria beschloss zu landen,
denn sie hatte Durst. Wasser kannte sie von der Schale, die Mutter ihr stets gebracht hatte. Mittlerweile beherrschte sie
ihre Schwingen so gut, dass sie beinahe lautlos und sanft nahe dem Ufer des großen Wassers zu Boden glitt. Wieder durchfuhr
sie ein angenehmes Gefühl. Weich und warm kitzelte der Uferboden unter ihren Füßen. Sie zupfte ein paar der seltsamen Hälmchen
mit den Zehen aus, verlor jedoch schnell das
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