Blutschwestern
ihr Gemüt. Es wurde immer dunkler, und Xiria wusste, dass sie zum Isnalwald hätte zurückkehren können, doch sie fühlte sich
kraftlos. Dann kochte Wut in ihr hoch. Jeder Mensch konnte einen anderen Menschen zum Gefährten haben und unter seinesgleichen
leben, nur ihr schien es verwehrt zu sein, einen Gefährten oder eine Sippe zu finden.
Noch einmal schrie Xiria ihren Zorn und ihre Wut heraus: »Xiria wird sich rächen!« Wieder hallte ihre Stimme zu ihr zurück,
schien sie zu verhöhnen, doch zwischen dem Hall vernahm sie irritiert noch ein anderes Geräusch. Es war ein Rauschen, ein
Schlagen, und es schwoll an, bis es ohrenbetäubend wurde. Xiria legte ihren Kopf in den Nacken und stieß einen überraschten
Schrei aus. Vor dem dunklen Nachthimmel kreisten unzählige Schatten, verdeckten die kühle weiße Mondscheibe und gaben sie
wieder frei. Aufgeregt sprang sie von ihrem Stein auf und hob die Arme. Ihre Haut begann zu prickeln, als sie die ersten Schwingen
erkennen konnte, die sich ihr näherten. Sie hatte ihre Sippe gefunden! Einer nach dem anderen setzten sie geschmeidig vor
ihr auf dem Felsplateau auf und starrten sie aus blauen Augen an. Die Greife waren von schlanker Gestalt und kühler Anmut.
Ihr bis zu den Hüften reichendes Haar war silbern, ihre Glieder biegsam und schlank – sie ähnelten Xiria bis aufs Haar, nur
ihre Körper waren männlich, wie es die von Dawon und Degan gewesen waren. Keine einzige Greifenfrau befand sich unter ihnen!
Dawon hatte Xiria beigebracht, wie man zählte, doch als sie dreimal die Finger ihrer Hände abgezählt hatte, gab sie es auf.
Es waren zu viele …
Ebenso überrascht wie Xiria die Greife anstarrte, betrachteten sie Xiria. Sie wusste in diesem Augenblick, dass Dawon nicht
gelogen hatte. Sie war etwas Besonders unter ihrer Sippe – sie war einzigartig! Die Blicke, das vorsichtige Betasten ihres
Fleisches, als die |341| Ersten es wagten, sich ihr zu nähern, zeigten es ihr deutlich. Es war ein gutes Gefühl – diese bewundernden Blicke, die vorsichtige
Neugierde. Xiria wurde mutiger. Sie fuhr mit den Händen über die Brust des ersten und berührte dann das Haar des zweiten Greifen.
Schließlich wurde sie kühner, sie benutzte ihre Nase, um den Duft aufzunehmen, den sie verströmten. Schon zog sie der Erste
an sich. Xiria war bereit, ihrem natürlichen Trieb zu folgen und das zu tun, was die Menschen Liebe nannten, da zog sie ein
anderer fort und wollte sie für sich. Xiria war es gleichgültig, sie waren ihre Sippe, und jeder wäre ihr recht gewesen, doch
ein Dritter mischte sich ein.
Bald erkannte sie, dass die Greife nicht nur um sie buhlten, sondern begannen, sich zu bekämpfen, wobei sie sich mit ihren
Klauen gegenseitig Wunden schlugen und in wilde Raserei verfielen. Jeder von ihnen wollte sie, sie wurde begehrt und geliebt!
Xiria betrachtete das Gerangel mit einem Gefühl von Verzücken. Gleichzeitig spürte sie das erste Mal seit dem Kuss, den Degan
ihr abgerungen hatte, wieder körperliches Begehren. Sie wartete eine Weile, doch als die ersten ihrer Sippe tot am Boden lagen
und die Kämpfe immer wilder und entschlossener wurden, geriet sie in Wut.
»Xiria will, dass ihr aufhört!«, rief sie mit perlender Stimme in die Menge der Kämpfenden. Als hätte ihr Wort die Gewalt
eines Sturmes, hielten die Greife tatsächlich inne und starrten sie an. »Xi ria hat Hunger und Durst. Xiria will essen.«
Der Kampf war so schnell vergessen, wie er entbrannt war; kein Groll schien zwischen den Greifen zu herrschen. Stattdessen
nickte derjenige, welcher ihr am nahesten stand. »Komm mit uns!« Er wies mit dem Finger auf ein entfernt liegendes Felsplateau.
»Dort leben wir. Injamon soll entscheiden, was geschehen soll.«
»Injamon?«, fragte Xiria, und der Greif nickte. »Injamon ist der, der uns anführt.«
»Warum ist er der Anführer?«, wollte Xiria wissen, denn über den Umstand, dass es immer irgendjemanden gab, der mehr durfte
als alle anderen, hatte sie noch nie nachgedacht.
|342| »Mador hat Injamon dazu bestimmt«, antwortete der Greif ohne Leidenschaft, und Xiria gab sich einstweilen mit dieser Antwort
zufrieden. Sie hatte Hunger und Durst, und sie musste zu Kräften kommen.
Die Greife nahmen sie in ihre Mitte, als sie sich in die Luft erhoben, so als wollten sie sicherstellen, dass Xiria bei ihnen
blieb. Xiria genoss dieses Gefühl, bisher war sie stets abgelehnt oder fortgejagt worden. Ihre
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