Blutschwestern
… Etwas ist geschehen, als er sie …«
»… als er sie geküsst hat!«, beendete Lin den Satz. »Er denkt nur noch an sie. Wenn er könnte, würde er Engil sofort verlassen
und zu ihr gehen. Immerhin sind sie vom gleichen Blut.«
»Degan besitzt auch menschliches Blut und die Liebe Salas. Vergiss das nicht! Alles wird gut werden.«
Lin sprang auf und trat ans Fenster. Ihre Schultern waren angespannt, ihr ganzer Körper zeigte Abwehr. Sie glaubte Ilana kein
einziges Wort, und Ilana war sich selber nicht sicher, ob sie glaubte, was sie ihrer Tochter erzählte. Alles war verworren.
Nichts in Salas Prophezeiung hatte eine Greifin vorausgesagt, und weder sie noch Tojar wussten, was sie nun tun sollten. Liandra
hätte vielleicht Rat gewusst. Immerhin war Xiria ihre Tochter gewesen. Doch Liandra war tot, und Sala sprach nicht zu Lin.
Lin wandte sich zu ihrer Mutter um, und im gleichen Moment wurde ihr Haar von einem Luftzug aufgeweht. Verwirrt sahen sich
die beiden Frauen im Raum um. Die Türen waren geschlossen, und |336| der Tag war vollkommen windstill. Dann legte Lin plötzlich überrascht die Hand vor den Mund und sprang zur Seite. Neben ihr
stand ein Wesen, wie sie es noch nie gesehen hatte. Mit offenem Mund sah sie zu ihrer Mutter hinüber, auch Ilana hatte die
Gestalt bemerkt. Doch anstatt wie Lin erschrocken zu sein, breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht, das die Gestalt erwiderte.
»Nona«, sagte Ilana leise, und die perlende Stimme der anderen antwortete: »Ilana … es ist lange her.«
Langsam erhob sich Ilana von ihrem Ruhelager und ging auf Nona zu. Lin beobachtete das Geschehen noch immer reglos. Ilana
wusste nicht recht, wie sie die zarte und zerbrechlich anmutende Gestalt behandeln sollte. Ihrem natürlichen Bedürfnis, Nona
zu umarmen, gab sie nicht statt. Stattdessen blieb sie vor ihr stehen. »Ich wusste nicht, dass du dich den Lalu-Frauen angeschlossen
hast.«
Die Hand Nonas schwebte in einer abwehrenden Handbewegung. »Das ist nicht der Grund meiner Rückkehr, Ilana. Dawon ist angegriffen
worden … von einem weiblichen Greif. Ich bin hier, um dich zu warnen, dass es wieder begonnen hat. Muruk wird bald erneut
erscheinen.«
»Xiria war im Wiesenland?«, fragte Ilana atemlos.
»Ihr wisst von ihr?« Nona sandte einen Blick zu Lin. »Deine Tochter, Ilana?«
Die Königin nickte und winkte Lin zu sich heran, die scheu näher trat. »Meine Tochter Lin, die Hohepriesterin Engils, die
Liandras Nachfolge angetreten hat. Xiria, die Greifin, ist Liandras Tochter.«
Scheinbar kaum überrascht, nickte Nona. »Dann hatte ich mich damals nicht geirrt, als ich sie nach der Belagerung Engils durch
die Greife in der Tempelstadt fand. Sie wurde geschändet. Ich muss wissen, was du weißt.«
Ilana erzählte Nona die gesamte Geschichte und verschwieg ihr auch nicht Degans Begegnung mit Xiria. Nona hörte Ilana an,
ohne |337| sie zu unterbrechen, derweil Lin die Ruhe bewunderte, welche die unwirkliche Frau ausstrahlte. Sie war Degans Mutter, Lin
fragte sich, wie sie ausgesehen haben mochte, als sie noch ein Mensch gewesen war. Die Nona, die so unwirklich vor ihr stand,
war wunderschön.
»Diese Greifin ist gefährlich. Sie kann fühlen, besitzt jedoch kein Gewissen. Muruk wird alles dafür tun, sie für sich zu
gewinnen. Und sie wird seinem Ruf folgen. Von den Menschen hat sie bisher nur Schlechtes erfahren. Wer kann es ihr verübeln?«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, bekannte Ilana ehrlich.
Nona sah zuerst ihr und dann auch Lin lange in die Augen, was vor allem Lin einen Schauer über den Rücken jagte. Sie war so
ungreifbar, so weit fort von allem Menschlichen, dass keine Wärme, aber auch keine Kälte von ihr ausging. Nona war einfach
hier, um zu helfen. Sie erinnerte Lin an einen Wasserfall – wunderschön anzusehen, doch zu kühl, um in ihm zu baden.
»Du kannst nichts tun, Ilana … und du auch nicht, Lin. Es ist an Degan, das Feuer zu löschen, das er entfacht hat.«
»Das wird er niemals tun«, erklärte Lin verbittert, die froh war, dass sie endlich in das Gespräch einbezogen wurde. »Er begehrt
Xiria, er liebt sie!«
Nona kam zu ihr, und Lin meinte zu spüren, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Die Lalu-Frau schien
sie zu durchdringen und alles sehen zu können, was in ihrem Herz vor sich ging. »Es ist sein Schicksal, Lin. Er hat es nur
noch nicht erkannt. Und er wird deine Hilfe brauchen.«
Lin
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